"Wer blind ist, muss gut zu Fuß sein", sagt Gabriele Roßmaier und lacht. Dabei hat ihre Aussage durchaus einen ernsten Hintergrund: Entlang der Tegernseer Landstraße zwischen dem Ostfriedhof und dem Tegernseer Platz gibt es links und rechts viele verschiedene Geschäfte - aber keine Möglichkeit für blinde oder sehbehinderte Menschen wie Roßmaier, diese Straße zu überqueren. Es gibt entlang des Weges nämlich keine Ampel mit einem akustischen Signal, das Blinden anzeigt, ob die Ampel grün oder rot leuchtet. "Ich muss mir immer eine Seite aussuchen", sagt Gabriele Roßmaier. Sie ist seit ihrer Geburt blind und wohnt inzwischen seit neun Jahren in Giesing.
Heute nimmt sie an einer inklusiven Begehung teil, die die Münchner Aktionswerkstatt Gesundheit (MAGs) zusammen mit dem Verein Green City veranstaltet. Drei Rollstuhlfahrer, eine alte Dame mit Rollator und Gabriele Roßmaier zeigen, wo sie im Alltag auf Probleme stoßen. "Hier ist es gefährlich für blinde und sehbehinderte Menschen!", "Hier ist eine Stolperstelle!" - Solche Hinweise stehen auf kleinen Schildchen, die mit bunten Bändern an den betreffenden Stellen befestigt werden.
Am Edelweißplatz wird es schwierig für Gabriele Roßmaier. Fahrräder stehen herum, Wahlkampfschilder und ein weißer Lieferwagen nehmen den Platz auf dem Gehweg ein. Mit ihrem Blindenstock tastet sie sich voran. "Was ist das denn?", fragt sie den Rest der Gruppe. Mit der Spitze des Stockes ist sie an einen Betonklotz gestoßen. Der ist um einen Ampelmast aufgebaut - direkt daneben steht sogar eine weitere Ampelanlage, aber hier ist der Drückknopf mit einem Stück Pappe überklebt. Irmtraud Lechner, Koordinatorin von MAGS, beschreibt Roßmaier die Situation. Etwas verwirrt rätselt die Gruppe, was hier los ist. "Entschuldigen Sie", mischt sich auf einmal ein Bauarbeiter in orangefarbiger Arbeitsuniform ein, "die Anlage hier wird gerade modernisiert!" Ab nächster Woche werde es an dieser Stelle eine Ampel mit akustischen Signalen geben. "Das find ich super", freut sich Roßmaier und merkt sich die Stele der Ampel.
Ein kleiner Erfolg, doch nur wenige Meter weiter stößt sie auf das nächste Problem: Ein Fahrradladen stellt auf dem Bürgersteig einige seiner Räder aus, vor dem nebenan gelegenen Café sind niedrige Tische und Stühle aufgebaut. Es wird eng, hier hat nicht nur Gabriele Roßmaier ein Problem, sondern auch die Rollstuhlfahrer. Ricarda Wank sitzt in einem breiten elektrischen Rollstuhl, gerade als sie an den Hindernissen vorbeifahren will, kommt ihr eine junge Mutter mit einem Kinderwagen entgegen. Zu zweit kommen sie nicht aneinander vorbei, Wank lässt der Mutter den Vortritt.
Dieses Problem lässt sich schnell lösen, eine andere Sache beschäftigt die Rollstuhlfahrer viel mehr: Eine kleine Stufe vor den Eingängen der Läden. "Die meisten Geschäfte und Restaurants sind nicht zugänglich", sagt Wank, "das ist erschreckend". Günter Fieger-Kritter ist seit fünf Jahren auf einen Rollstuhl angewiesen. Er würde gerne "drastische" Schildchen aufhängen, "wir müssen leider draußen bleiben", wie die Hunde, sagt er.
Der Rundgang endet am Tegernseer Platz. Auch hier braucht Gabriele Roßmeier Hilfe, um die Kreuzung zu überqueren, denn die Ampeln sind auch hier nicht blindengerecht. "Ampeln gehen erst mit 25 Jahren in Rente", erklärt sie, "vorher haben sie Bestandsschutz". Zu dem Rundgang waren auch Bewohner der Südbayerischen Wohn- und Werkstätten für Blinde und Sehbehinderte eingeladen. Sie haben allerdings abgesagt, sagt Irmtrud Lechner. Als Grund haben sie angegeben, dass "sie selbst nie allein hier entlang gehen würden", so Lechner.
Bevor sich die Gruppe wieder trennt, besprechen sie ihre Erkenntnisse, die sie aus diesem Tag gezogen haben. Manche Teilnehmer frieren, es weht ein kalter Wind, aber Aufwärmen in einem Café ist nicht möglich: Die Rollstuhlfahrer kommen nicht rein. Also versammeln sich alle bei einem heißen Getränk um einen Tisch an der Straße. Ihr Fazit: Sie wünschen sich vor allem mehr Rücksicht. Nicht nur für Menschen mit Einschränkungen, sondern auch generell für Fußgänger und Radfahrer. "Allein bei der Planung könnte man schon Betroffene hinzuziehen", sagt Irmtraud Lechner, "man muss immer vom Schwächsten ausgehen".
Trotzdem sehen sie nicht alles negativ. Beim der nächsten Begehung soll es nicht nur Schildchen geben, die Problemstellen ansprechen, sondern auch Schildchen, die positive Beispiele kennzeichnen. Wie beispielsweise die blindengerechte Ampel, die dann hoffentlich schon im Einsatz ist.