Giesing:Provokation als Kernkompetenz

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Tela 2030 entwickelt urbane Visionen - zum Beispiel bei einer rituellen Totenbefragung auf dem Ostfriedhof

Von Andrea Schlaier, Giesing

Als Tommy Schmidt die Umstehenden dann auch noch auffordert, die Augen zu schließen, die Handflächen nach oben zu richten und ihm nachzusprechen, wird es der Frau im dunkelblauen Parka zu viel. Abrupt dreht sie auf dem Absatz um und verlässt mit festem Schritt die versprengte Gruppe Richtung St.-Martins-Platz. Die andern fahren, dicht an die Mauer der Aussegnungshalle gedrängt, ungerührt fort, es ihrem profanen Vorbeter gleichzutun: "Menschen, die ihr begraben seid auf dem Ostfriedhof/Erhöret uns!/Seid ihr bereit?/Mit den Lebenden zu leben?/Auf dem Ostfriedhof?" Wer am Samstagnachmittag nur zufällig zur "Rituellen Verstorbenenbefragung" gestoßen ist, reagiert mitunter etwas verstört auf das Projekt "Città Vitale - Leben auf dem Ostfriedhof", zu dem die kunstaffine Initiative Tela 2030 geladen hat; ein Verbund, der ebenso urbane wie polarisierende Visionen für Obergiesing entwickelt: Diesmal Wohntürme auf Gräbern des Ostfriedhofs.

Ausschwärmende Meinungsforscher: Bei einer satirischen Stadtgestaltungs-Aktion sammelten Bürger Stimmen der Verstorbenen auf dem Ostfriedhof (Foto: Stephan Rumpf)

Noch bevor es losging, erzählt später Edward Beierle von der Projektgruppe, habe sich eine Passantin gehörig echauffiert, dass jetzt wohl auch noch die Ruhestätten zugepflastert werden sollten. "Die hielt uns wohl für Investoren", sagt er grinsend. Die Combo um Beierle, Tommy Schmidt, Josephine Eberhardt und Angela Sauermann hat schon vor Tagen das Viertel rund um die Tegernseer Landstraße als arg belastete Lebensader der Gegend zugepflastert mit den eigenen Simulationen, die jetzt auch vor der Aussegnungshalle ausgestellt sind: Vier ockerfarbene Kästen strecken sich da hinter der Friedhofsmauer gen Himmel. Aber Satire, zumal stadtgestalterische, ist heutzutage nicht immer auf den allerersten Blick dechiffrierbar.

Aktivisten suchten in der Stille Antworten. (Foto: Stephan Rumpf)

Schon gar nicht die "Totenstimmen", mit denen die Tela-2030-Leute am Samstag in Aktion treten. Die knapp 20 Aufgeschlossenen, die sich einfinden, wissen fast alle, worum es den Veranstaltern geht: unkonventionelle Ideen für ein sozialgerechtes, lebenswertes, umweltverträgliches und kommunalwirtschaftlich sinnvolles Miteinander in Giesing zu entwickeln. "Wir machen uns Gedanken, wie man Menschen mit Utopien, aber auch mit Dystopien erreichen kann", sagt Beierle.

10 000 lebende Giesinger auf dem 30 Hektar großen, wunderbar grünen Ostfriedhof unterzubringen, ist so eine Anti-Utopie. Damit aber auch alles fair zugeht, müssten auch die Betroffenen, also die Toten, "auf Augenhöhe" befragt werden, erklärt Tommy Schmidt den Besuchern. "Achtsame Annäherung" an diesen Ort, gibt Angela Sauermann als Devise aus. "Stellen wir uns also bitte mal alle in einen Kreis, bevor wir später schweigend den Friedhof begehen und eine Grabstätte, einen Verstorbenen, aufsuchen, zu dem's uns grad hinzieht." Augen schließen. Boden spüren. Einatmen. Ausatmen. "Lade nun auch dein Herz ein, dem Ruf der Stille zu folgen." Wer will, darf ein Grablicht mitnehmen zur Befragung. "Wenn du Unterstützung brauchst, kannst du dir von mir Karten holen, da sind die Fragen noch mal notiert", bietet Sauermann an. Mehr als 15 Minuten soll das Interview nicht dauern.

Die einen stehen mit rot leuchtender Kerze vor einer Ruhestätte, andere tun sich mit dem Zuhören in der Hocke leichter, den postkartenkleinen Fragenkatalog in der Hand: "Würden Sie diesen Ort verlassen, um Lebenden einen Platz zum Wohnen zu geben?", steht da mit Schreibmaschine getippt. "Können Sie sich vorstellen, umzuziehen?" Und: "Wäre es ok, wenn sich andere Menschen zu ihnen gesellen?"

Mit gesenktem Haupt kommen die Meinungsforscher nach einer halben Stunde wieder von ihrer übersinnlichen Mission zurück. Und, was gab's für Stimmen? "Also ich hatte keinen Kontakt und ich habe auch den Eindruck, das ist den Toten egal", hebt eine Frau nicht unfröhlich an. Aber sie fände es schade, wenn man ihnen den Ort wegnähme. Eine andere erzählt von einem Herrn, der noch nicht so lang gestorben sei. "Der war eher grantig, dass man nicht mal im Tod sei Ruah hat." Tommy Schmidt, ganz Satiriker, betrachtet das Gesammelte als Auftrag zum Nachdenken. Möglicherweise wären Friedhöfe auf Dächern am Ende eine verträgliche Lösung? Eine Frau schlägt eine "Randbebauung vor und in der Mitte ruhen die Toten". Neben ihr beharrt eine andere auf "dringend notwendigen rituellen Plätzen in unserer Gesellschaft". Na, ja, sagt Schmidt, wenn's nicht der Ostfriedhof ist, der bebaut wird, dann vielleicht das Sechziger Stadion.

Provokation gehört zur Kernkompetenz der Tela 2030, die in ihrem Wirken auch von der Münchner Gesellschaft für Stadterneuerung unterstützt wird. Und solche Ideen: Die Heilig-Kreuz-Kirche als Coworking Space, Parklizenzen an der Tegernseer Landstraße für 800 Euro je Fahrzeug und Monat, das Gefängnis an Studenten und Auszubildende vermieten, die Häftlinge in die Provinz umsiedeln. Wäre mal was für eine Befragung auf Augenhöhe.

© SZ vom 10.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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