Verloren und vergessen:Was 2018 in München liegen blieb

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Vom Ehering bis zum Fernseher, vom Gebiss bis zum Grabkreuz: Jedes Jahr verlieren die Münchner Tausende Dinge. Die kuriosesten Fundstücke des Jahres.

Von Christian Schlodder

Vergessene Orte, all jene Gebäude, die ein einsames und verlassenes Dasein fristen und deshalb Amateurentdecker und Hobbyfotografen anlocken, sind schwer im Trend. Doch kaum jemand interessiert sich für vergessene Dinge. Dabei erzählen genau diese ganz oft erstaunlich viel über die Orte, an denen sie zurückbleiben. Wie viele Dinge in München jedes Jahr verloren und dann vergessen werden, weiß natürlich niemand. Doch allein im städtischen Fundbüro landen jedes Jahr etwa 50 000 Einzelstücke, von denen weit weniger als die Hälfte jemals abgeholt werden. Vieles davon ist alltäglich - und manches erstaunlich skurril.

Fußball-Arena

(Foto: Özer/SZ)

Fußball ist mitunter eine todernste Sache. Der besonders treu verbundene Fan entdeckt in ihm gar eine Ersatzreligion. Und so kann es durchaus sein, dass im Fundbüro der Fröttmaninger Arena nicht nur ein gewöhnliches Fanutensil aufschlägt, sondern eine Reliquie. An einem durchschnittlichen Spieltag landen dort ein oder zwei Handys, circa fünf Jacken und bis zu drei Schals - die eben nicht nur Schals sind. "Was bei uns abgegeben wird, ist nicht nur ein normales Kleidungsstück", sagt Werner Götz von der Arena. "Da hat ein Schal gleich mal eine ganz besondere Bedeutung, weil er im Meisterjahr getragen wurde oder ein besonderes Geschenk der Freundin war." Dauerhaft bleibt deshalb kaum etwas liegen, die Besitzer der verlorenen Dinge melden sich in der Regel schnell zurück. Neben diversen Fanutensilien unter den Fundstücken war dieses Jahr auch ein Ehering dabei, der wohl im Freudentaumel vom Finger geglitten sein muss. "Eine unangenehme Sache", sagt Götz. Er selbst verlor seinen bei der heimischen Gartenarbeit. Nach dem Wiederauffinden schickte ihn seine Frau prompt zum Juwelier, um ihn enger machen zu lassen. Denn noch todernster als der Fußball kann die Ehe sein.

Circus Krone

(Foto: Özer/SZ)

Ein Zirkusbesuch kann den tristen Alltag auf fast magische Weise für kurze Zeit vergessen machen. Kein Wunder also, dass sich beim traditionsreichen Circus Krone vor allem die kleinen und großen Dinge des Alltags sammeln - so sie denn vergessen werden. Größtenteils werden Jacken, Mützen und Schals verloren - und kaum abgeholt. Wenn ausnahmsweise mal ein Mobiltelefon oder eine Geldbörse zurückbleibt, macht sich das Pressebüro höchstpersönlich auf die Suche nach dem Besitzer, sagt Andreas Kielbassa vom Circus Krone. Der Rest werde gesammelt und könne auf Nachfrage jederzeit im Foyer des Zirkus abgeholt werden. Im Sommer, wenn die Show durch Deutschland tourt, ist das natürlich schwieriger. Dann muss der "Wagen 80" der Entourage als mobiles Sammellager herhalten. Doch meist würden in den warmen Monaten nur Regenschirme zurückbleiben, für die niemand der wandernden Zirkusgesellschaft hinterher reist.

Harry Klein

(Foto: Özer/SZ)

Als eines Nachts nach einer langen Party im Harry Klein Club das Licht anging, blieb ein einzelnes Licht zurück. Eine Schreibtischlampe wartete an der Garderobe auf Abholung - bis heute. Wer sie wohl mitgebracht hatte? Und vor allem: warum? Im Harry Klein gibt es viele dieser skurrilen Überbleibsel. Im Jahr 2017 sorgten zum Beispiel drei nicht abgeholte Schnitzel für Stirnrunzeln. Von 100 Gästen vergesse mindestens einer irgendetwas, schätzt Dominic Ulrich. Meist seien es EC-Karten, Schlüssel und Handys, die in der Regel schnell wieder abgeholt werden. Nur mit Klamotten ist das anders. Drei bis fünf Stücke bleiben pro Partynacht zurück. Vor allem Club-Hopper, die von Party zu Party ziehen, wüssten am nächsten Tag oft nicht mehr, in welchem Laden sie suchen müssen, sagt Ulrich. "Es ist wirklich erstaunlich, wie wenige Leute ihre Klamotten danach abholen." Wenn man den Besitzern nicht nur Vergesslichkeit unterstellen möchte, darf man auch unfreiwilligen Altruismus als Erklärung bemühen: Denn Kleidungsstücke, die auch nach sechs Wochen noch nicht abgeholt sind, werden vom Club gespendet. Nur die drei Schnitzel wanderten sofort am nächsten Morgen in den Müll.

Tierpark Hellabrunn

(Foto: Özer/SZ)

Wie das passieren konnte, dass am Ende des Jahres zwei Gebisse auf ihre Besitzer warten, weiß man im Tierpark Hellabrunn nicht. Die Vermutung, dass es vor dem Raubtiergehege ein verlustreiches Zähnefletschen mit den Dritten gab, bleibt Spekulation. Am Ende machten die künstlichen Kauwerkzeuge bis Anfang Dezember 2018 zwei von insgesamt 2023 Fundsachen des zoologischen Ensembles aus. "Man findet überall ein bisschen was", sagt Helene Schneider. Zumeist würden Dinge auf den Spielplätzen des Tierparks zurückbleiben. Alle vier Wochen landen die Sachen dann im städtischen Fundbüro. "Ansonsten würden wir überlaufen", sagt Schneider. Innerhalb der vierwöchigen Frist wurden zwar nicht die Gebisse, aber immerhin ein Ehering und diverse Kinderwagen abgeholt. Der eine oder andere Besucher scheint es bewusst auf einen Verlust abgesehen zu haben. So wurden in der Giftschlangenhalle regelmäßig Goldfische ins Wasserbassin entlassen. Striktere Taschenkontrollen sollen das nun verhindern. Einen extra Hinweis, auf seine Zahnprothesen zu achten, wird es am Einlass aber vorerst nicht geben.

Isar

(Foto: Özer/SZ)

Die Isar ist ein Wildfluss, sie fließt vergleichsweise schnell. Es bleibt also für gewöhnlich nicht viel in ihr liegen, die Dinge werden einfach weggespült - bis sie sich in den Wehren der Stadt verfangen. Meist handelt es sich dabei um Müll. Doch 2018 landeten auffällig viele Dinge im Fluss, die selbst die Strömung nicht forttragen konnte: Leihfahrräder. Der Anbieter Obike hatte die Stadt mit bis zu 7000 Rädern förmlich zugepflastert. Die landeten dann recht oft auf Bäumen, in Büschen und eben auch in der Isar. Am Ende, so wird geschätzt, könnten es bis zu 50 versenkte Räder gewesen sein. Niemand weiß, wie viele es außerdem noch im Stadtgebiet gibt. Die Firma aus Singapur hat längst Insolvenz angemeldet, der Stadt aber zugesagt, die Räder einsammeln zu lassen. Viele dieser Fahrräder sollten fortan in Rom ihr zweites Leben führen, doch noch immer liegen kaputte Exemplare verstreut in München herum. Nach Ablauf aller Fristen soll im Frühjahr endlich das große Aufräumen beginnen. "Ich hoffe, dass das Kapitel Obike damit dann erledigt ist", sagt Florian Paul von der Stabsstelle Radverkehr. Bis dahin wird aber noch viel Wasser die Isar hinunterfließen.

U-Bahn, Bus und Tram

(Foto: Özer/SZ)

Verlierer bekommen bei Robert Gräcmann Nummern. Siebenstellige Nummern. Mit denen erfassen er und seine Mitarbeiter alle Gegenstände, die in U-Bahnen, Bussen und in der Tram liegen bleiben. Hinter den Nummern verstecken sich allerhand kuriose Dinge. Mal ist es ein Fahrrad, mal ein einzelner Schuh. Selbst ein Töpfchen bekam die sieben Ziffern. Neben dem Kinderklo liegen derzeit noch etwa 100 Geldbeutel, ein paar 100 Schlüssel und rund 600 Handys in den Schränken und Regalen der Münchner Verkehrsgesellschaft (MVG). Zudem werden jeden Monat etwa 100 EC-Karten abgegeben. Lassen die Fundstücke Rückschlüsse auf ihre Besitzer zu, versucht das Büro, Kontakt aufzunehmen. Bei der Fundsache mit der Nummer 1808-822 ist das jedoch eher schwierig: Dabei handelt es sich um ein hölzernes Grabkreuz - ohne Namensplakette. Im Gegensatz dazu werden neue iPhones meist auffallend sehr schnell wieder abgeholt, berichtet Gräcmann. Überhaupt liege die durchschnittliche "Abhol-Rate" mit 80 Prozent recht hoch. Selbst 30 000 Euro in bar wurden schon gefunden, abgegeben und wieder abgeholt - das war die Fahrt ins Fundbüro allemal wert.

Hofbräuhaus

(Foto: Özer/SZ)

Wilhelm Gabriels bekanntem Gassenhauer nach steht in München nicht nur ein Hofbräuhaus, in ihm hat auch so mancher "braver Mann gezeigt, was er so vertragen kann". Dem Bier wird ja allerhand anregende Wirkung zugeschrieben, aber für einen sicheren Schritt ist es eher nicht förderlich. Und doch scheint es einem Lahmen das Laufen ermöglicht zu haben. Denn eines Tages fand sich plötzlich ein herrenloser Rollator im altehrwürdigen Bierhaus. Eine Ausnahme - meist werden im Hofbräuhaus keine Gehhilfen stehengelassen, in der Regel sind es die obligatorischen Handys, die vergessen werden, Geldbörsen und von Touristen verlorene Reisepässe, die von den Angestellten gefunden werden. Auch frisch getätigte Einkäufe bleiben nach dem Mass-Genuss gern mal einsam unter dem Tisch liegen. Selbst ein Paar Skier blieb schon zurück. Werden die Fundstücke nicht abgeholt, werden sie - mit Ausnahme von persönlichen Dingen wie Pässen oder EC-Karten - gespendet. Dieses "Schicksal" blieb dem Rollator am Ende erspart. Sein Besitzer holte ihn einige Wochen später wieder ab. Wie er es am Tag seines Verlustes nach Hause geschafft hatte, ist leider nicht überliefert.

Fundbüro

Fotos: Döring, Hess, Rumpf, MVG, dpa, Hoppe/picture alliance, Schellnegger (3), Imago (2), Reger, Peljak (2), Staiger; Illustrationen: Özer/SZ (Foto: N/A)

In der Nähe des Harras wartet am Ende eines unscheinbaren Innenhofs der Ort, an dem die verlorenen Dinge der Stadt ein temporäres Zuhause finden. 50 000 Dinge landen dort jedes Jahr, darunter etwa 3500 Handys, 9000 Ausweise, 3500 Geldbörsen und 1100 Fahrräder. Zudem lagerte dort im Dezember exakt ein neuwertiger Flachbildfernseher, vergessen in einem Carsharing-Fahrzeug. Weitere 3000 Fundstücke sind Überbleibsel von der Wiesn, auch im Winter hängen auf den Kleiderständern des städtischen Fundbüros noch zahlreiche Trachtenjanker. 23 Mitarbeiter kümmern sich um den Zyklus eines Fundgegenstands: Erst die Annahme, dann die Abholung - und wenn nicht schließlich die Auktion. Lediglich 35 Prozent der vergessenen Gegenstände werden abgeholt. Kann der Besitzer nicht ermittelt werden, versteigert das Fundbüro die Sachen nach einer Aufbewahrungsfrist von sechs Monaten. Jedes Jahr gibt es dafür zwei Termine. Bei zwei weiteren kommen Fahrräder unter den Hammer. Ob Schnäppchenjäger bei der nächsten Auktion auch auf einen Flachbildfernseher bieten können, hängt davon ab, ob sich dessen Besitzer rechtzeitig daran erinnert, ihn verloren zu haben.

© SZ vom 05.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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