Fürstenried:"Ein Stück Gemütlichkeit ist weg"

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Noch schön grün: das Wohnquartier an der Appenzeller Straße. (Foto: Natalie Neomi Isser)

Am Beispiel der Planungen für 600 neue Wohnungen an der Appenzeller Straße entzündet sich beim "SZ-Lesercafé" eine leidenschaftliche Diskussion über Nachverdichtung in Fürstenried-West

Von Nicole Graner, ThomasKronewiter und Jürgen Wolfram, Fürstenried

"Unter diesem Projekt", sagt Hans-Jörg Reim, "leidet jeder anders." Das Ehepaar Reim wohnt im zweiten Stock eines Gebäudes an der südlichen Stadtgrenze, im Bereich Appenzeller Straße/Bellinzonastraße/Forst-Kasten-Allee. Es gibt viel Grün trotz der Wohnblocks, Spielplätze, gefühlte Weite beim Blick aus dem Fenster oder vom Balkon. Nun aber befürchten die Reims, dass es bald vorbei sein könnte mit dem Wohlfühlen. Denn wenn die Bayerische Versorgungskammer (BVK) ihre Pläne verwirklicht, bis zu 600 zusätzliche Wohnungen im Quartier unterzubringen, schaut Hans-Jörg Reim, "zehn Meter von unserem Haus entfernt", bald auf ein 15-stöckiges Hochhaus.

"Nichts gegen Hochhäuser", sagt Reim. Aber im Falle der geplanten Nachverdichtung sei einfach der Abstand zwischen den Gebäuden zu gering. Dass dem Wohnungsbau reichlich Grün zum Opfer fallen soll, regt auch andere Bewohner der Siedlung auf. Das Thema gehörte zu den meistbeklagten Problemen beim "SZ-Lesercafé" in Obersendling. Für Andreas Art, Sprecher der eigens formierten Bürgerinitiative (BI) "Pro Fürstenried", stellt sich im Hinblick auf das prognostizierte Bevölkerungswachstum die Grundsatzfrage: "Um wie viel soll die Stadt noch wachsen?" Müsse man noch weitere Unternehmen, wie etwa kürzlich Microsoft, in die Stadt locken, statt die wenigen Flächen gleich für den Wohnungsbau zu nutzen? Nichts gegen neue Wohnungen, aber: Die Stadtspitze habe "Maß und Ziel verloren". Norbert und Sonja Krebs haben eine plakative Botschaft an Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD): "Bei uns wohnen die Krankenschwestern und auch immer mehr Menschen mit Migrationshintergrund friedlich miteinander, bisher."

Der Unterschied zwischen München und den mittlerweile zahlreichen Megastädten weltweit ist laut BI-Mitglied Kurt Grünberger, dass die sich wenigstens in die Fläche ausdehnen können. In München mit seinen engen Grenzen bedeute Nachverdichtung oft jedoch eine "extreme Form des Eingriffs". Mitstreiter Andreas Art ist überzeugt, dass die städtische Politik vollkommen an den Interessen der Münchner vorbei geht. Was die Bayerische Versorgungskammer in Fürstenried plane, habe Folgen für das ganze Quartier: "Ein Stück Gemütlichkeit ist weg."

Dass die Fürstenrieder nicht begeistert sind über die Architektur, die das Berliner Planungsteam LIN Labor Integrativ Gesellschaft von Architekten mit dem Büro Holzwarth Landschaftsarchitektur verantwortet, macht die Debatte nicht einfacher. Eine Anwohnerin, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, hat nichts gegen eine "natürliche Verdichtung". Aber dass man an einer Stelle so einen "Stinkefinger" hinbaue, ärgert sie maßlos. Generell hat sie sowieso das Gefühl, dass in München überall gleich gebaut wird. "Schuhschachteln und nochmals Schuhschachteln", klagt die politisch interessierte Seniorin. Man wisse oft gar nicht mehr, in welchem Stadtviertel man sich gerade befinde.

Was den Fürstenriedern besonders stinkt, ist das Gefühl, dass die von der BVK und dem städtischen Planungsreferat ausgerufene Bürgerbeteiligung lediglich eine Alibi-Veranstaltung ist. "Man spielt uns heute gut gemacht vor, dass wir Mitgestaltungsmöglichkeiten haben", sagt Hans-Jörg Reim. In Wirklichkeit sei alles schon entschieden. Inwieweit der Bauträger bereit ist, auf Änderungswünsche der Anwohner von der Appenzeller Straße, Bellinzonastraße und Forst-Kasten-Allee noch einzugehen, ist unklar. "Dem gegenwärtigen Verfahrensschritt zwischen Juni und Ende Juli möchten und dürfen wir nicht vorgreifen", teilt die Pressesprecherin der Bayerischen Versorgungskammer, Maike Kolbeck, hierzu mit; der Entwicklungsstand der Planung werde erst danach kommuniziert. Mitglieder der Jury des Architektenwettbewerbs hatten Anfang des Jahres angedeutet, dass sie der Bürgerinitiative insofern schon entgegengekommen seien, als sie sich für einen Entwurf entschieden, der deutlich unter der Marke von 600 zusätzlichen Wohnungen bleibt.

Die Reims fühlen sich dennoch unfair geködert: Schmackhaft gemacht würden Aufstockungsplänen mit dem Hinweis auf dann mögliche Dachgärten. Zu Baumfällungen hieße es, selbstverständlich werde nachgepflanzt, vorhandene Spielplätze würden durch schönere ersetzt. Überhaupt die Bäume. Gisela Krupski hat den Bestand in der Siedlung gezählt und ist auf 834 Einzelgehölze gekommen. Nahezu 200 müssten fallen, hat die Biologin und Naturschützerin ausgerechnet, rund ein Viertel also. Und wenn es heißt, dass Ersatz kommt, ist das für sie nur die halbe Wahrheit: "Gefällt wird ein nahezu 50 Jahre alter Baum, nachgepflanzt ein dünnes Stämmchen."

Nach mehreren Workshops und Planungsschritten räumen die Reims ein, dass nun eine Variante verfolgt wird, die ihnen in ihrer Wohnung zumindest kein Licht wegnimmt. Aber wirklich glücklich sind sie nicht. Ihre Empfehlung: 300 statt 600 Wohnungen - dann würde zumindest ein bisschen vom Grün bewahrt. "Nichts gegen mutige Ideen", sagt Hans-Jörg Reim - und wartet nun auf die nächste Möglichkeit, sich über den Sachstand zu informieren. Am Dienstag, 11. Juli, soll die aktuelle Planung im Bürgersaal Fürstenried präsentiert und diskutiert werden.

© SZ vom 14.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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