SZ-Adventskalender:Der Kämpfer

Lesezeit: 4 min

Ignaz Müller leidet unter einer frühzeitigen Verknöcherung der Schädelnähte. Mehr als 30 Operationen hat der fünf Jahre alte Bub hinter sich. Seine Familie wünscht sich nun einen Ausflug, um durchatmen zu können

Von Julia Bergmann, Fürstenfeldbruck

Ignaz und sein kleiner Bruder Georg toben durch das Wohnzimmer. Auf ihren Bobby-Car-Traktoren jagen der Fünf- und der Zweijährige einander hinterher. Ignaz, noch ganz aufgedreht von der wilden Jagd, steigt ab, läuft lachend zu seiner Mutter und macht es sich auf ihrem Schoß gemütlich, während die 42-Jährige beginnt, die Geschichte ihrer Familie, die Geschichte von Ignaz' Krankheit zu erzählen. Der fünf Jahre alte Bub leidet unter einer schweren Form der sogenannten Kraniosynostose, einer frühzeitigen Verknöcherung der Schädelnähte. In der Regel sind bei Erkrankten ein bis zwei Schädelnähte betroffen. Bei Ignaz waren bei der Geburt bis auf die Fontanelle alle geschlossen. "Dadurch ist es bei ihm zu vielen Komplikationen gekommen", sagt Melanie Müller, Ignaz Mutter. "Ignaz ist auch schon einmal gegangen", sagt sie mit gedämpfter Stimme. Der kleine Bub, damals nur wenige Monate alt, war so schwach, dass sein Herz aufgehört hatte zu schlagen. In letzter Sekunde konnten die Ärzte ihn reanimieren. Seither hat Ignaz in schon über 30 Operationen über sich ergehen lassen müssen. Mit entsprechender medizinischer Versorgung hat er aber eine normale Lebenserwartung.

Gerhard und Melanie Müller mit ihren beiden Söhnen Ignaz (links) und Georg. Trotz Ignaz' schwerer Krankheit lassen sich die Müllers kleine Momente voller Leichtigkeit und Spaß nicht nehmen. (Foto: Carmen Voxbrunner)

Weil Ignaz und seine Eltern oft monatelang am Stück im Krankenhaus sind und darunter der Alltag der Familie leidet, wünschen sich Melanie und ihr Mann Gerhard nichts sehnlicher, als ein paar Tage Zeit mit allen Kindern bei einem Ausflug zu verbringen. Die Eltern wollen mit Ignaz, Georg und den beiden älteren Kindern aus Gerhards erster Ehe, Anna und Kilian, verreisen. "Nicht zu weit weg, vielleicht in ein Familienhotel im bayerischen Wald", sagt Melanie Müller. Falls es einen Notfall gibt, muss für Ignaz das Krankenhaus in München schnell erreichbar sein. Weil er aufgrund seiner Erkrankung spezielle Bedürfnisse hat, muss auch das Hotel besonders ausgestattet sein. Die Familie muss außerdem eine ganze Reihe an Vorkehrungen treffen. Mit allen Kindern zu verreisen, ist nicht nur aufwendig, sondern auch teuer. Alleine könnten das die Müllers derzeit nicht stemmen, deswegen will sie der SZ-Adventskalender unterstützen.

"Es würde uns viel bedeuten", sagt Melanie Müller. "Wir könnten uns ein paar Tage nur auf uns konzentrieren, ausschlafen, alle zusammen eine Kissenschlacht machen und kuscheln", sagt sie. Gerade nach dem vergangenen Jahr, das für die Familie sehr hart war, wäre ein solche Auszeit für die Müllers das Größte. Erst im Januar musste die Familie um Ignaz' Leben bangen. Bei dem Jungen wurde einige Monate zuvor eine Zyste im Spinalkanal entdeckt. Diese hat unter anderem dazu geführt, dass Ignaz das Laufen verlernt hatte und nicht mehr richtig atmen konnte. Die Ärzte hatten die Familie damals bereits auf das Schlimmste vorbereitet. Eine OP, so hatte es geheißen, sei risikoreich, die Aussicht auf Erfolg gering. "Im Januar haben sie es dann trotzdem geschafft, die Zyste zu fenstern", sagt die Mutter. Ein Loch in der Zyste sorgt dafür, dass der Spinalkanal nicht mehr fast vollständig verschlossen ist. "Es war ein absoluter Erfolg." Ignaz, wie zum Beweis, springt wieder auf und fordert Georg zu einer neuen Verfolgungsjagd auf. Dass der Bub heute wieder gehen, laufen und toben kann - es ist wie ein Wunder für die Familie.

Auch als Dossier

1 / 1
(Foto: Catherina Hess)

150 Millionen Euro hat der SZ-Adventskalender für gute Werke in 69 Jahren eingenommen. Zum 70-jährigen Bestehen blickt eine digitale Sonderausgabe zurück, erklärt, wie das Spenden-Hilfswerk funktioniert, und bündelt berührende Geschichten aus München und dem Umland. Erhältlich im Digitalkiosk oder unter: sz.de/sz-adventskalender

Mit einem Blick auf ihren kranken Sohn sagt Melanie Müller: "Er war immer ein Kämpfer" und "er ist immer ein sehr fröhliches Kind, auch wenn es ihm schlecht geht". So war das, als die Ärzte einen großen Teil seines Schädels öffnen mussten, um mehr Platz für Ignaz wachsendes Gehirn zu schaffen, so war das, als er von Dezember 2017 bis April 2018 alle 14 Tage operiert werden musste. Ignaz hat sich nicht beklagt, als im vergangenen Jahr fast jede Nacht seine Augäpfel wegen des enormen Drucks in seinem Schädelinneren aus den Höhlen gefallen sind. Er war tapfer, als er kurz vor der Entlassung eines mehrmonatigen Krankenhausaufenthalts einen Blinddarmdurchbruch hatte. Und er hat wieder gekämpft, während seine Eltern fürchteten, der Shunt, der das Hirnwasser in den Bauchraum ableitet, könne sich nach dem Blinddarmdurchbruch infizieren.

Nicht nur für Ignaz, sondern auch für seine Eltern ist die Belastung enorm. Trotzdem wollen die Müllers für ihre Kinder stark sein. Ändern könne man an der Situation ohnehin nichts. "Wie es ist, so ist es", sagt Gerhard Müller. Seine Frau erklärt: "Als Elternteil funktionierst du einfach. Eine gewisse Zeit klappt das." Doch irgendwann wurde auch für die sie Belastung, die ständige Sorge zu groß. Im Frühjahr bemerkte Melanie Müller schließlich erste Warnzeichen wie Migräneanfälle. Das ständige Gefühl der Überforderung plagte sie. "Unserem Pflegedienst ist das aufgefallen", sagt sie. Ignaz wird 18 Stunden am Tag, etwa im Kindergarten und auch nachts, begleitet. Der Dienst war es, der letztendlich die Stiftung Ambulantes Kinderhospiz München (AKM) hinzuzog, die die Familie mittlerweile in ihrer schwierigen Lage entlastet. Die Stiftung, die auch eine Niederlassung im Landkreis hat, hat es sich zum Ziel gesetzt, Kindern und Jugendlichen mit lebensbedrohlichen oder schweren Krankheiten sowie deren Familien Momente der Geborgenheit und Normalität zu ermöglichen. Im Fokus steht die emotionale, soziale und gesellschaftliche Stabilisierung der gesamten Familie. "Ehrenamtliche Familienbegleiter kommen regelmäßig zu Hause vorbei und verbringen Zeit mit demjenigen, der es in dem Moment am meisten braucht", erklärt Lena Bronner vom AKM. "Wir sind 365 Tage im Jahr für den Alltag da." Das könne bedeuten, dass man beim Ausfüllen von Anträgen hilft, mit Geschwisterkindern spielt oder einfach mal nur ein offenes Ohr für die Sorgen der Eltern hat. "Wir helfen, wo Not am Mann ist", sagt Bronner. So ist das auch bei den Müllers.

Mit der Unterstützung des Teams kann die Familie immer wieder für einige Momente aufatmen. Die Hilfe hat die Familie gerade jetzt besonders nötig, wo es Probleme mit der Krankenkasse gibt. Erst kürzlich mussten die Müllers 10 000 Euro für dringend benötigte Spezialnahrung bezahlen. Ignaz muss über eine Sonde ernährt werden und verträgt aufgrund von Lebensmittelunverträglichkeiten nur ein ganz bestimmtes Produkt. Allein das kostet 1200 Euro im Monat. Die Kasse weigert sich, die Kosten zu übernehmen. Obwohl Gerhard Müller eine eigene Firma hat, ist die finanzielle Belastung enorm. Beschweren will sich Melanie Müller trotzdem nicht. "Ansonsten bekommen wir wirklich viel Unterstützung", sagt sie. Auch jetzt gilt für die Müllers, sie wollen das Beste aus der Situation machen. "Wir wissen, dass es Menschen gibt, denen es viel schlechter geht", sagt Melanie Müller. Trotz allem.

© SZ vom 22.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: