SZ-Adventskalender:Aus allen Routinen gerissen

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Die 24-jährige Julia wird mit Trisomie 21 geboren. Durch die Pandemie und einen Schicksalsschlag wird sie in ihrer Entwicklung weit zurückgeworfen

Von Florian J. Haamann, Fürstenfeldbruck

Nichts ist für Menschen wie Julia so wichtig, wie ein geregelter Alltag. Die 24-Jährige ist mit Trisomie 21 geboren, sich in der Welt zu orientieren und mit anderen Menschen zu kommunizieren fällt ihr schwer. Mit der Zeit hat sie es aber geschafft, regelmäßig einer Arbeit nachzugehen und eine gute Bindung zu ihrer Familie zu finden, sich zu öffnen. Ein Schicksalsschlag 2018 allerdings hat diese Entwicklung gestört. Und mit Ausbruch der Pandemie, die ihr auch die Möglichkeit genommen hat zu arbeiten, wurde sie dann endgültig zurückgeworfen. Es sei kaum noch möglich, an die junge Frau ranzukommen, sie habe sich komplett zurückgezogen, erzählen ihre Eltern Klaus und Sabine Alexander (Namen von der Redaktion geändert). Es sind nur wenige Dinge, an denen die 24-Jährige richtig Spaß hat, etwa tanzen, singen, sich bewegen. Der Adventskalender für gute Werke der Süddeutschen Zeitung möchte die Familie nun bei der Anschaffung eines behindertengerechten Fahrrads unterstützen.

Der erste Rückschlag für Julia kam 2018 mit der Depression ihrer Mutter. Die musste immer wieder monatelang stationär, später tagsüber psychologisch behandelt werden. Während Sabine Alexander in der Klinik ist, verliebt sich dann auch noch Julias kleiner Bruder, das letzte ihrer vier Geschwister, das bis dahin noch zu Hause wohnt, und zieht aus. "Julia hat damals zwei wichtige Bezugspersonen auf einmal verloren. Ich musste von einem Tag auf den anderen in die Klinik und wusste nicht, was los ist. Ich konnte es ihr auch nicht erklären, weil ich dazu in diesem Moment nicht mehr fähig war und es auch nicht hätte erklären können", sagt Mutter Sabine Alexander. Zu diesem Zeitpunkt ist sie schon seit vielen Jahren von ihrem Mann getrennt, hat Julia und ihre Geschwister zum großen Teil alleine erzogen.

Gerade als die Mutter wieder richtig zu Hause ist, bricht die Pandemie aus und die 24-Jährige verliert ihre Arbeit in einer Werkstätte, in der sie leichte Montagearbeiten verrichtet hat. "Es ging ihr damals ja sowieso schon nicht gut, und das war noch einmal ein richtig tiefer Einschnitt. Ihr kompletter Rhythmus war nicht mehr da. Sie ist in ein Loch gefallen, war oft nicht mehr ansprechbar. Sie hat sich in ihre eigene Welt zurückgezogen", erzählt die Mutter.

Verstärkt wurde der Rückzug auch dadurch, dass Julias wenige Freizeitbeschäftigungen pandemiebedingt nicht mehr stattfinden konnten. So habe es ihr große Freude bereitet, einmal pro Woche die offene Behindertenarbeit der Caritas zu besuchen, dort zu singen und zu tanzen. Und auch der inklusive Gospelchor "Oh Happy Day", in dem sie leidenschaftlich gerne sang, konnte sich während der Pandemie nicht treffen. "Tanzen, Musik hören, Filme sehen, das sind die Dinge, die sehr gerne macht und bei denen sie ganz fasziniert ist. Wenn sie irgendwo Musik hört, singt sie mit, als ob sie alle Lieder kennt. Ich glaube Musik ist der Schlüssel zu ihrer Seele," erzählt der 65-jährige Klaus Alexander.

(Foto: SZ)

Weil all das im Moment fehlt, bleibt Julias Seele verschlossen. "Wenn wir beispielsweise am Tisch sitzen und ich sie frage, ob sie noch etwas essen will, kommt nichts. So als hätte sie es nicht gehört. Dann fragt man ein zweites Mal und es kommt wieder nichts. Erst beim dritten Mal reagiert sie vielleicht. Als ob es so lange braucht, bis es bei ihr ankommt", beschreibt der Vater eine typische Situation, die es früher so nicht gegeben hat. Seit sich die Situation der Tochter verschlechtert hat, ist er wieder öfter bei der Familie, um Julia und ihre Mutter zu unterstützen. Um genug Zeit zu haben, musste er auch beruflich kürzer treten, was die finanzielle Situation zusätzlich belastet.

Ein großes Thema war für die Eltern die Frage, ob sie Julia impfen lassen sollen. "Sie hat als Baby eine Herz-OP gehabt, weil die Kammern nicht dicht waren. Wir mussten damals sehr aufpassen, dass sie beispielsweise kein Fieber kriegt, weil das für sie sehr riskant gewesen wäre. Deswegen war die Vorstellung furchtbar, dass sie mit Corona ins Krankenhaus muss. Andererseits war unklar, wie das mit der Impfung bei ihr ist", erzählt der Vater. "Ich muss sagen, dass ich lange gegen die Impfung war und gehadert habe. Ich habe mich aber intensiv damit auseinandergesetzt und finde es sehr gut. Julia ist jetzt auch endlich komplett geimpft", ergänzt die Mutter. Weil die 24-Jährige selbst, deren Downsyndrom mit einem gewissen Grad an Autismus einher geht, selbst nicht versteht, was Corona oder gar eine Impfung und Nebenwirkungen sind, mussten die Eltern diese Entscheidung, wie viele andere, ganz alleine treffen.

Seit einigen Wochen ist es nun wieder möglich, dass die 24-Jährige zur Arbeit geht. Für die Eltern heißt das, auch dort wieder ganz von vorne zu beginnen. "Dass sie eineinhalb Jahre nicht dort war, irritiert sie natürlich. Wenn ich sie früher geweckt und gesagt habe, dass sie jetzt arbeiten muss, war sie sofort hellwach, egal ob sie vier oder acht Stunden geschlafen hat. Sie war da und es ging los. Damals konnte sie auch mit dem Bus fahren, das ist aktuell noch zu gefährlich", sagt der Vater. Heute sei es schwer, sie zur Arbeit zu motivieren. Auch vor Ort ist sie dann nicht so gerne wie früher. Wie bei einem Kindergartenkind, geht es nun darum, sie langsam wieder einzugewöhnen. "Angefangen haben wir mit einer Stunde, die wir dann auch dabei geblieben sind, dann zwei Stunden. Zum Glück sind sie dort sehr tolerant", sagt Mutter Sabine. So könne Julia langsam wieder beginnen, ihre Routinen zu entwickeln.

Langfristig sei es das Ziel, dass die 24-Jährige in eine betreute WG ziehen kann, erzählen beide Eltern. Bis sie soweit sei, werde es aber noch einige Jahre dauern. "Sie wird natürlich nie auf eigenen Füßen stehen. Aber sie bräuchte bald einen eigenen Lebensbereich. Was mich beschäftigt, ist die Frage, wie es weitergeht, wenn ich sie irgendwann nicht mehr so unterstützten kann", sagt der 65-Jährige. Pläne für einen Auszug gebe es aber noch nicht. "Aktuell sind wir froh über jeden Tag, den wir schaffen."

© SZ vom 08.12.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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