Neue Heimat im Hochhaus:Von Bagdad nach Puchheim

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Nach der Entführung eines Sohnes ist die Familie Solaqa vor einem Jahr aus dem Irak geflüchtet. Die Kinder sprechen schon Deutsch.

Peter Bierl

Es ist der Alptraum aller Eltern. Das Kind geht zum Einkaufen in den Laden um die Ecke und kommt nicht zurück. Die Suche bleibt vergeblich, ein paar Stunden später klingelt das Telefon und ein Unbekannter fordert Lösegeld. Für die Familie Solaqa gab die Entführung den Ausschlag dafür, aus Bagdad zu flüchten. Seit Ende 2010 leben Sami und Wasan Solaqa mit ihren vier Kindern in einem der Hochhäuser von Puchheim-Bahnhof.

Die Kidnapper hatten Klark Solaqa in den Kofferraum eines Autos gepackt. Eine Woche blieb der Zwölfjährige in ihrer Gewalt, sie behandelten ihn einigermaßen gut, verbanden seine Augen stets mit einem schwarzen Tuch. Der Vater verhandelte am Telefon mit den Entführern und drückte den Preis auf 10000 Dollar. Die Familie kratzte das Geld zusammen, bekam die Hälfte von der katholischen Gemeinde, der die Solaqas angehörten. Schließlich hinterlegte der Vater das Geld am vereinbarten Ort. Eine Stunde später war Klark frei.

Vater Sami Solaqa hat Statistik und EDV an der Universität in Bagdad studiert. Er und seine Frau haben jung geheiratet, als das erste Kind kam, brach er das Studium ab und baute einen Getränkegroßmarkt auf. Die Frage, ob sie als Christen im Irak besonderem Druck ausgesetzt gewesen wären, verneint er: "Ob Christ oder Muslim, Araber oder Kurde, es ist für alle schlimm. Es herrschen Unsicherheit und Gewalt."

Nach dem glimpflichen Ausgang der Entführung verkaufte Sami Solaqa sein Geschäft samt zwei Lastwagen und einen schönen Pkw. Die Familie reiste mit einem Visum in die Türkei und von dort auf Lastwagen versteckt illegal weiter in die EU und nach Deutschland, zum Preis von 30000 Dollar. Anfang Juli kam Wasan Solaqa mit zwei Kindern in München an. Sie dachte, ihr Mann und die beiden anderen Kinder kämen gleich mit dem nächsten Fahrzeug, aber der Wagen war verschwunden. Nach der Anspannung und Aufregung war der Schreck für die heute 34-Jährige, die an hohem Blutdruck leidet, zu viel, sie musste ins Krankenhaus. Eine Woche später kam der Rest der Familie endlich an.

Mitte Juli kamen die Solaqas in ein Flüchtlingsheim in Karlsruhe, von dort wurden sie nach Reutlingen verlegt, wo die Familie blaue Reisepässs und eine Aufenthaltserlaubnis für drei Jahre bekam. Als eine Bekannte aus dem Heim eine Wohnung in der Puchheimer Planie vermittelt bekam und den Solaqas den Ort empfahl, ergriff die Familie die Chance, das Heim zu verlassen.

Nun leben sie zu sechst in einer Drei-Zimmer-Wohnung im neunten Stock in einem jener Blöcke aus den 1970er Jahren. Vom Balkon haben sie einen weiten Blick über Puchheim-Bahnhof, von der anderen Seite des Hauses könnten sie auf jene große Baustelle blicken, auf der gerade der Golfplatz angelegt wird. Die Wohnung ist adrett eingerichtet, mit großem Fernseher, der dauernd läuft, und einer gemütlichen Couch im Wohnzimmer, das den Eltern auch als Schlafzimmer dient. Über dem Sofa hängen Bilder von Jesus und Maria.

Die Dolmetscherin Aveen Khorschied schätzt, dass sich Flüchtlinge wie die Solaqas etwas leichter tun in Deutschland. Ein Teil der rund 120 Flüchtlinge, die im Herbst nach Puchheim kamen, sind jessidische Kurden. Angehörige dieser eigenständigen Religionsgemeinschaft lebten relativ abgeschieden in fünf Dörfern im Norden des Landes und seien in der Regel Analphabeten. Diesen Leuten falle es schwer, sich umzustellen, sagt Khorschied.

Dagegen zählen Leute wie die Solaqas im Irak zur städtischen Mittelschicht, sie sind ambitioniert, die Kinder sollen etwas lernen. Die Solaqas waren eine der drei Familien, die das Fest für die Neuankömmlinge im Mehrgenerationenhaus "Zap" besuchten. Die Veranstalter waren enttäuscht über die mäßige Resonanz. Die Solaqas lachen darüber, zucken die Achseln und erzählen, dass von einer Familie auch bloß der Vater gekommen sei um seine Kinder abzuliefern.

Sami Solaqa fährt viermal in der Woche in die Buchenau, wo er einen Deutsch-Kurs besucht. Er will möglichst schnell wieder auf eigenen Beinen stehen und arbeiten, am liebsten als Buchhalter. Die Ersparnisse sind aufgebraucht, die Miete bezahlt das Sozialamt. "Es gibt für mich keine Hoffnung, in den Irak zurückzugehen", sagt er. Sobald es dort ein bisschen sicherer wäre, will er nach Bagdad und auch noch das Wohnhaus der Familie verkaufen.

Wasan Solaqa wartet noch auf einen Deutsch-Kurs, weil in Puchheim ein geeigneter Raum gesucht wird, wie Khorschied sagt. Das jüngste Kind, der fünfjährige Karlos, besucht den Fröbelkindergarten. Er sitzt vor einem Computer und spielt. Die Dolmetscherin, die auch in dem Kinderhaus tätig ist, diskutiert mit den Eltern darüber, weil der Junge im Kindergarten oft unkonzentriert wirke. Die drei älteren Geschwister gehen zur Schule und kommen nach den Osterferien in die neu eingerichteten Übergangsklassen. Sie erzählen, dass sie sich wohlfühlen in der Schule und anfangen Freundschaften zu schließen.

Mathematik ist das Lieblingsfach der neunjährigen Carina, die die Grundschule Süd besucht. Mit ihrer großen Schwester Klara kann man sich schon auf Deutsch unterhalten. Sie will Pharmazie studieren und Apothekerin werden. Klara hat sich um einen Praktikumsplatz beworben, aber bisher nur Absagen kassiert. "Ich werde weiterkämpfen", sagte die 16-Jährige. Die Eltern freuen sich darüber. "Sie soll nicht so früh heiraten wie ich, sondern eine Ausbildung machen", meint die Mutter.

Klark interessiert sich für Fußball, schwärmt für den FCBayern. Er ist still und zurückhaltend. Eine psychologische Betreuung wegen der Entführung bekommt der 13-Jährige nicht. Angeblich zeigt er keine Symptome eines Traumas. Die Dolmetscherin führt das darauf zurück, dass Kidnapping von Kindern im Irak zum Alltag gehört.

© SZ vom 29.04.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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