Archäologie:Das Mysterium der geheimnisvollen "Schratzllöcher"

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So könnten auch die Erdställe im Landkreis Freising einst ausgesehen haben. Das Bild zeigt die Entdeckung eines Stollensystems bei Aying. (Foto: Claus Schunk/Archiv)

Lorenz Scheidl, Vorsitzender des Archäologischen Vereins, berichtet über geheimnisvolle Erdställe im Landkreis Freising. Ursprung und Zweck dieser Stollen liegen immer noch im Dunkeln.

Von Peter Becker, Freising

Viele Sagen gibt es, die von geheimnisvollen Erdmännlein berichten. Die sind oft gutmütig, helfen den Menschen heimlich bei der Arbeit, so wie die Heinzelmännchen zu Köln. Überall, wo solche Sagen existieren, gibt es meistens Erdställe. Davon geht Lorenz Scheidl, Vorsitzender des Archäologischen Vereins Freising, aus. Über den Mythos der Erdställe, von denen es auch viele im Landkreis Freising gegeben hat, referierte er jüngst in der Klosterbibliothek am Landratsamt.

Die bisweilen weitverzweigten unterirdischen Gänge haben die Fantasie der Menschen beflügelt. Weil sie so niedrig sind und mit engen Schlupflöchern versehen, dachte die Landbevölkerung früher, dort könnten nur Zwerge oder Erdmanderl darin gewohnt haben. Fest steht aber, dass die Gänge von Menschenhand geschaffen worden sind. Jüngsten Erkenntnissen zufolge dürfte das zwischen dem 10. und 12. Jahrhundert geschehen sein, sagte Scheidl. Es gibt zwar keine Funde in den Erdställen, aber nachvollziehen lässt sich das unter anderem anhand von Holzkohleresten, die in Hilfsschächten gefunden worden sind.

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Manche Gänge sind mit Sitzgelegenheiten ausgestattet, die aber für Menschen der Gegenwart wenig komfortabel sind. Die Wölbungen sind zwischen einem halben bis zu 1,50 Meter hoch. Es gibt Hilfsschächte, aus denen die Erbauer offenbar den Abraum nach draußen geschafft haben - nur um das Gangsystem nach dessen Fertigstellung gleich wieder zu verschließen.

Warum die Menschen in jener Zeit solche Gangsysteme gegraben haben, darüber rätseln Experten noch heute. Mitnichten bedeutet der Begriff, dass in Erdställen Vieh gehalten wurde oder diese als Wohnungen dienten. Gegen eine Zuflucht vor Feinden spricht, dass keine Fluchtwege vorhanden sind. Angreifer hätten die Geflüchteten leicht einschließen oder gar ausräuchern können. Ohnehin nimmt der Sauerstoffgehalt mit zunehmender Tiefe ab.

Möglicherweise spielten beim Anlegen der Erdställe gewisse Kulte aus vorchristlicher Zeit eine Rolle. Weil viele unter Kirchen oder markanten Landschaftspunkten verlaufen, könnten auch frühchristliche Vorstellungen zutreffen. Demnach sollen Seelen in einer Art Zwischenwelt auf den jüngsten Tag harren. Laut Scheidl spricht dafür, dass Seelen damals in der Tat als kindliche, nackte Gestalten dargestellt waren, wozu die niedrige Bauweise der Gänge und die Durchschlüpfe passen würde. Gegen diese These sprechen wiederum andere triftige Gründe.

Sagen aus Mauern, Haag und Baumgarten berichten über Erdmännlein

Immerhin berichten Sagen aus Haag, Baumgarten oder Mauern von Erdmännlein, welche für die Bewohner einer Hofstelle nachts heimlich Arbeiten erledigten. Hausgesinde bekamen sie einst zu Gesicht. Weil sie nackt waren, ließen sie aus Dankbarkeit Kleider für die Wesen nähen, worauf diese beleidigt auf immer verschwanden. Die Kleidung war nämlich aus rotem Stoff genäht, einer Farbe, diese sie nicht ausstehen konnten.

Laut Scheidl gab es im Landkreis einst viele Erdställe, oft am Übergang der Schotterebene zum Hügelland. Weil der Boden, in den sie gebaut wurden, aus Lehm besteht, sind sie meist eingestürzt, erodiert oder durch Ackerbau zerstört worden. Ganz im Gegensatz zu anderen Vorkommen von Erdställen in Tschechien und Österreich, wo sie ins Gestein hinein getrieben wurden, sind nur noch Reste vorhanden.

Irgendwann gerieten die Erdställe in Vergessenheit. Leute, die sich daran erinnern konnten und etwas zu erzählen gehabt hätten, waren gestorben. Dem Gymnasialprofessor Joseph Wenzl (1858 - 1923), Pionier der Archäologie im Landkreis Freising, ist die Beschreibung einiger wieder entdeckter Gangsysteme zu verdanken. Er arbeitete seit 1902 für das Bezirksamt Freising an dem großen Werk "Die vorgeschichtlichen Denkmale Bayerns" mit. Akribisch fertigte er detaillierte Skizzen und Beschreibungen seine Funde und Protokolle mit Ortsansässigen an.

Das Bild zeigt eine Skizze Joseph Wenzels vom Rottmeier-Hof in Baumgarten. (Foto: Archäologischer Verein/OH)

So zum Beispiel bei einem Fund auf dem "Rottmeier-Hof" in Baumgarten bei Nandlstadt. Dessen Ursprung war ein alter unterirdischer Gang. 1883 war dort bei Bauarbeiten eine große Höhle freigelegt worden. Unter dem Mesnerhaus befand sich ebenfalls eine Kammer, die bereits mehrfach untersucht worden war. Diese freigelegte Höhle, von der aus ein Gang Richtung Friedhof verlief, wurde nicht weiter untersucht und zugemauert. 1904 wütete ein Brand auf dem Anwesen. Beim Neubau eines Stalles kam der Gang wieder zum Vorschein, den Wenzl daraufhin untersuchte.

Der Gang, so heißt es in einer Beschreibung des Archäologischen Vereins, führte sieben Meter "nordöstlich der NW-Ecke der Friedhofsmauer in einer Tiefe von etwa 1,5 Meter nach Westen". Allerdings war der Stollen größtenteils verfallen und nur auf einer Länge von zwei Metern begehbar. Der Rottmeier-Hof ist der älteste in Baumgarten. Er wurde im 12. Jahrhundert zum ersten Mal urkundlich erwähnt. Das passt zu der Zeit, als die "Schratzlöcher", wie die Erdställe auch genannt werden, entstanden.

Erdställe im Landkreis Freising. (Foto: Archäologischer Verein/OH)

Einem Zufall war es verdanken, dass im Jahr 2009 in Ölpersberg bei Zolling ein Erdstall wieder entdeckt wurde. Ein Traktor war in einen Gang eingebrochen. Seinerzeit untersuchte der langjährige Vorsitzende des Archäologischen Vereins, Erwin Neumair, zusammen mit der Expertin für solche Bodendenkmäler, Hilde Macha, den Erdstall. Dessen Vorhandensein war bereits 1924 bekannt. Damals war er auf einer Länge von 30 Metern begehbar. 2009 erschien eine weitere Untersuchung als zu gefährlich.

Beim Lehmabbau in Mauern war 1858 ein Pferd in einen unterirdischen Gang eingebrochen. Dieser war bereits um 1900 verschüttet worden. 1965 war bei Bauarbeiten unter dem Alten Wirt in Mauern ein Erdstall entdeckt worden, der in Richtung Schloss und Kirche verlief. Dass ein unterirdischer Weg zum Schloss Isareck führen sollte, verweist Scheidl aber ins Reich der Fantasie. Das sei aus geologischen Gründen nicht möglich. 1906 war bei Arbeiten auf einem Hof in Fürholzen eine Kammer mit Gang zum Vorschein gekommen. Die Besitzer gruben weiter und stießen 1910 auf einen Schlupf und einen Querweg.

Unheimlicher Fund in Hohenbachern

Unheimlich mutet ein Fund an, den Wenzl in Hohenbachern untersuchte. Arbeiter waren 1904 auf dem Friedhof neben der Kirche wohl beim Ausheben eines Grabes in einen Gang eingebrochen. Da sie sich nicht an eine Untersuchung wagten, schütteten sie ihn wieder zu und verrammelten ihn mit alten eisernen Grabkreuzen. Wenzl musste den Zugang wieder freilegen. Der Gang war größtenteils über einige Meter begehbar.

Wenzl schreibt, dass sich auf dem Boden Wasser angesammelt hatte, habe das Vorwärtskommen unter den Gräbern hindurch nicht angenehmer gemacht. Dabei soll auch ein Skelett gefunden worden sein. Es handele sich aber um eine normale Bestattung. Der oder die Verstorbene sei wohl zufällig in den Gang hinein beerdigt worden.

Literatur: Hilde Macha, Erwin Neumair und Fritz Ott: Joseph Wenzl - 1858 - 1923. Ein Pionier der Archäologie im Landkreis Freising. Freisinger Archäologische Forschungen, Band 2. ISBN13: 9783896468925.

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