Forschung:Königlich-bayerische Verwicklungen

Lesezeit: 4 min

Was hat die Mumie der kleinen Carolina mit Max I. Joseph zu tun? Pathologe Andreas Nerlich wittert eine kuriose Affäre.

Von Jakob Wetzel

"Mortui vivos docent" steht in Frakturschrift an der Wand des Sektionssaals der Pathologie im Klinikum Schwabing, "die Toten lehren die Lebenden". Wenn Andreas Nerlich hier einen Leichnam untersucht, dann lernt er dabei meist etwas über den menschlichen Körper oder über Krankheiten, die diesem zusetzen können. Doch was der Mumienforscher und Chef der Pathologie jetzt in Erfahrung gebracht hat, ist derart indiskret, dass es im Grunde mehr in eine Klatsch-Zeitschrift passen würde als auf einen Sektionstisch. Er hat eine Geschichte rekonstruiert, die zurückreicht bis zu den Anfängen des Königreichs Bayern. Sie spielt am Hof in München, an dem es offenbar einst recht freizügig zugegangen ist.

Am Mittwochabend hat Nerlich die Ergebnisse seiner Nachforschungen im Hörsaal der Pathologie vorgestellt. Er hätte es selber nicht für vorstellbar gehalten, eine solche Affäre aufzudecken, sagte er. "Das hört sich alles recht romanhaft an. Es ist aber echte, gelebte Geschichte."

Forschung
:Wie Ötzi wirklich war

"Mumien liefern einen unmittelbaren Blick in die frühere Zeit", sagt Albert Zink. Der Münchner Anthropologe weiß, was Ötzi vor seinem Tod gegessen hat.

Von Korbinian Eisenberger

Doch der Reihe nach. Begonnen hat diese Geschichte für Nerlich 2011 in der Gruft von Schloss Wackerstein östlich von Ingolstadt. Diese sollte saniert werden, und dabei kamen fünf ungewöhnlich gut erhaltene Leichname zum Vorschein. Vier von ihnen hatten sich allein wegen der trockenen Witterung erhalten, einer aber war professionell mumifiziert worden. Es war der Körper eines kleinen Mädchens. Sein Bauch war geöffnet und wieder verschlossen worden, ebenso sein Kopf. Die Haut zeigte Spuren von Bandagen, die wieder entfernt worden waren. Und neben dem Körper stand ein Metallgefäß, eine Art Kanope.

Wer die Toten waren, stand auf einer Holztafel: Es ist die Familie der Freiherren und Freifrauen von Jordan. Der Vater Friedrich Wilhelm kam aus Stettin, war ein karrierebewusster Militär, "a richtiger Breiß", sagte Nerlich, "blühendes Äußeres, brutale Selbstüberschätzung", dabei aber sehr erfolgreich: Binnen weniger Jahre brachte er es zum Flügeladjutanten des bayerischen Kurfürsten, des späteren Königs Max I. Joseph, 1813 gar zum Generalmajor. Neben ihm lag seine Ehefrau Violante von Sandizell, eine gebürtige Münchnerin und Hofdame der bayerischen Königin Caroline. Ein Freund der Familie, Heinrich LII. von Reuß-Köstritz, lag auch in der Gruft. Und schließlich waren da die Kinder der Jordans: der "Jüngling Max" und die kleine, im Juli 1816 verstorbene und künstlich mumifizierte Carolina, die den Münchner Mumienforscher besonders beschäftigte.

1 / 2
(Foto: Wilhelm Kobell, Neue Pinakothek)

Wer war Carolinas leiblicher Vater? Friedrich Wilhelm von Jordan?

2 / 2
(Foto: SZ Photo)

Oder König Max I. Joseph von Bayern?

Nerlich untersuchte das Mädchen, wie es ein Pathologe eben tut. Er entnahm Proben und begutachtete die Organe, die in jenem Metallgefäß neben dem Leichnam in einer alkoholischen Flüssigkeit schwammen und hervorragend konserviert waren. Der Pathologe fand heraus, dass die kleine Carolina erst acht Monate vor ihrem Tod abgestillt worden war, dass sie im Darm einen nun ebenfalls schon seit mehr als 200 Jahren toten, 20 Zentimeter langen Spulwurm mit sich herumtrug, dass sie außerdem von Mikroparasiten befallen war und noch dazu vermutlich eine Virusinfektion hatte, als sie am Ende an einer Lungenentzündung starb. Aber warum hatte man dieses Kleinkind so aufwendig präpariert?

Nerlich wollte mehr wissen - und wurde stutzig. Er fand heraus, dass das Kind im März 1815 in Neapel geboren worden und dort auch gestorben war. Nachforschungen in Portici bei Neapel ergaben, dass Carolina dort erst im Alter von drei Monaten getauft worden war, für damalige Verhältnisse sehr spät. Und die Eltern, die im August 1814 geheiratet hatten, waren offenbar nur wegen ihrer Tochter im Süden gewesen: Sie waren wenige Monate vor der Entbindung ins damalige Königreich Neapel gefahren und kehrten nach Carolinas Tod überstürzt nach Bayern zurück.

In Archiven stieß Nerlich auf noch mehr Eigenartiges. So erhielt der Freiherr von Jordan, Carolinas Vater, rund um den wahrscheinlichen Zeugungstermin großzügige Zuwendungen von Max I. Joseph, unter anderem einen erblichen Adelstitel und ein lukratives Adelsgericht, die Erlaubnis, Recht zu sprechen - und das, obwohl Maximilian von Montgelas, der Minister des Königs, gerade dabei war, diese juristische Tradition abzuschaffen. Und der König schenkte Jordan noch mehr Geld. Wieso das alles?

Die Antworten darauf sind zum Teil spekulativ, doch Nerlich hat einen Verdacht. Waren die Eltern nach Neapel gereist, um den Augen des Hofstaats zu entfliehen und damit nicht nur die Schwangerschaft geheimzuhalten, sondern auch das Aussehen des Kindes? Carolina ist groß für ihr Alter; war sie deshalb so spät getauft worden, um zu verschleiern, dass sie in Wahrheit schon früher geboren, also vor der Hochzeit ihrer Eltern gezeugt wurde? Und von wem? Wessen Kind war die kleine Carolina?

Andreas Nerlich leitet die Pathologie der Kliniken Schwabing und Bogenhausen und ist Experte für Mumien. (Foto: Florian Peljak)

Nerlich stieß speziell hierzu auf einen pikanten Eintrag in den Memoiren des württembergischen Diplomaten Heinrich Levin Graf von Wintzingerode, der gut über den Tratsch am bayerischen Hof unterrichtet war. Die Sitten seien in München "recht locker", schrieb er. Die Königin sei prüde, der König hingegen "wenig skrupulös". Eines Tages habe nun Max I. Joseph dem Major von Jordan vorgeworfen, eine Hofdame der Königin, die Gräfin von Sandizell, geschwängert zu haben - nun solle er sie gefälligst heiraten. Diese Ehe sei später wirklich geschlossen worden. Jordan aber habe anfangs "gewisse Zweifel an seiner Vaterschaft" geäußert - und der König fühlte sich offensichtlich ertappt: Tatsächlich hatte er selbst ein Verhältnis mit der Dame. Er redete sich jedoch heraus: Er "antwortete unter Abgabe seines Ehrenworts, daß er mit dem Fräulein länger als ein Jahr nichts mehr gehabt habe", notierte der Graf von Wintzingerode. Insgeheim aber war sich der Monarch offenbar nicht ganz sicher. Es ist eine Mutmaßung - aber wenn der König glaubte, in Violante von Sandizell wachse seine eigene Tochter heran, erklärt das die Geschenke an das Brautpaar ebenso wie die konspirative Reise nach Neapel.

Warum sie das Kind dann als Mumie zurück nach Bayern brachten, ist unklar. Ob der König das Mädchen sehen wollte? War die Mumie deshalb aus den Bandagen wieder ausgewickelt worden? Oder diente die Mumie den Jordans als Druckmittel, damit der König seine Zuwendungen nicht zurückforderte?

Zumindest in einer Sache gibt es heute, nach 200 Jahren, Klarheit: Einer Gen-Analyse zufolge war Carolinas Vater mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,9997092 Prozent nicht der König, sondern Wilhelm von Jordan selbst. Das tote Kind ist eine reguläre Freifrau von Wackerstein gewesen, keine heimliche Prinzessin.

Ob die Jordans das wussten? Wollten sie dem König das Kind wissentlich unterjubeln? Oder fühlten sie sich im Recht? Nerlich sagt, er wisse es nicht. "In jedem Fall haben sie die Situation sehr gut genutzt."

Andreas Nerlich: Prinzessin Wackerstein. Geheimnisse einer bayerischen Kindermumie aus der Zeit König Max I. Joseph. Eine medizin-historische Untersuchung, Weißenhorn: Anton H. Konrad Verlag 2019, 160 Seiten, 34,95 Euro.

© SZ vom 25.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: