Expertenkongress:"Es ist unser Auftrag und unsere Pflicht"

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Oberbürgermeister Dieter Reiter fordert konsequenteren Kampf gegen Antisemitismus - Charlotte Knobloch spricht vom Gefühl des Alleingelassenseins

Von Thomas Anlauf

Wenn Charlotte Knobloch über das jüdische Leben in Deutschland nachdenkt, wird ihr oft bang. "Wir fühlen uns alleingelassen", sagt die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Erst vor wenigen Wochen sprach die 88-jährige Münchnerin bei einer Demonstration gegen Judenhass auf dem Marienplatz zu den Menschen. Doch es waren so wenige, die sich am 18. Juni bei brütender Hitze vor dem Rathaus versammelt hatten. "Die Repräsentanten haben mir gefehlt, die sonst wunderschöne Sonntagsreden halten", sagte sie am Mittwoch zum Auftakt des Regionalforums "Jüdische Vielfalt in Deutschland".

Das Gefühl des Alleingelassenseins in einer Zeit, in der Antisemitismus in Deutschland und auch in München zunimmt und es auch zunehmend zu Anschlägen gegen Synagogen und Menschen jüdischen Glaubens kommt, das beunruhigt die jüdische Gemeinde tief. Charlotte Knobloch kennt die Verfolgung und den Massenmord der Nazis noch aus eigener leidvoller Erfahrung. Nach dem Krieg wollte sie als junge Frau mit ihrem Mann Samuel "Deutschland so schnell wie möglich verlassen. Keiner wollte in diesem Land, dem ehemaligen Land der Mörder, bleiben". Doch nach der Geburt der Kinder entschieden sie sich doch für ein Leben in München.

Oberbürgermeister Dieter Reiter mahnte in seinem Grußwort beim Expertenkongress im Alten Rathaus, dass angesichts der steigenden Zahl von Straftaten gegen jüdische Mitbürger "der Kampf gegen Antisemitismus konsequenter werden" müsse - "und zwar von uns allen". Dazu gehöre Zivilcourage und eine politische Überzeugung. "Es ist unser Auftrag und unsere Pflicht, alles dafür zu tun, dass Antisemitismus in München nicht geduldet wird." Reiter erinnerte daran, dass München zwar als sogenannte Hauptstadt der Bewegung "die Brutstätte des nationalsozialistischen Terrors" gewesen sei. Anderseits gebe es seit vielen Jahrhunderten jüdisches Leben in München. Ein sichtbares Symbol sei das Jüdische Zentrum am Jakobsplatz mit der Ohel-Jakob-Synagoge, die vor 15 Jahren geweiht wurde.

Die Münchner Schriftstellerin Lena Gorelik, vor 40 Jahren als Tochter jüdischer Eltern im damaligen Leningrad (Sankt Petersburg) geboren, fordert die gesamte Zivilgesellschaft auf, sich gegen Ausgrenzung und Intoleranz zu engagieren. Sie sieht sogar ein Problem darin, wenn es um die Unterscheidung zwischen Antisemitismus und etwa Rassismus geht. "Das Problem ist dort, wo die Trennung beginnt", sagt Gorelik. Dabei gehe Ausgrenzung, Hass und Gewalt "uns alle an".

Auch das jüdische Leben will sie nicht auf die Religion und das Leben in der Gemeinde reduziert sehen. "Es gibt sehr viel jüdisches Leben außerhalb", sagt die Schriftstellerin und Journalistin, die im Mai ihren stark autobiografischen Roman "Wer wir sind" veröffentlicht hat. Für sie als Kind in Russland habe das jüdische Leben sehr im Verborgenen stattgefunden. Höchstens die Großtante habe manchmal heimlich jiddische Lieder gesungen, doch die Eltern mahnten die junge Lena, nicht herumzuerzählen, dass sie jüdisch sei. Ausgrenzung und Antisemitismus erfuhr also auch sie als Kind. Und das erlebt sie bis heute - in Deutschland.

© SZ vom 15.07.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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