Lesung:Im Namen der Erinnerung

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Handreichungen zur Geschichte: Die Schriftstellerin Eva Menasse sprach mit ihrem Kollegen Uwe Timm im Münchner Literaturhaus über ihren neuen Roman "Dunkelblum". (Foto: Literaturhaus München)

Ein Gipfeltreffen der deutschsprachigen Literatur: Eva Menasse im Gespräch mit Uwe Timm im Münchner Literaturhaus.

Von Antje Weber, München

Er habe da ein "Handicap", sagt Uwe Timm, "ich kann mir nur schlecht Namen merken". Als er die Fahnen von Eva Menasses neuem Roman "Dunkelblum" zugeschickt bekommen habe, habe er am Anfang angesichts der Fülle von Figuren gedacht: "Welche Wirrnis!" Beim Lesen habe er dann gemerkt, dass jede Figur eine "unverwechselbare Präsenz" habe, die aus ihrer Haltung, ihrem Verhalten herrühre. Und überhaupt findet der Schriftsteller ansonsten ausschließlich aufrichtig wirkende lobende Worte für das Werk der Kollegin, den glänzenden Stil, die "erhellende Situationskomik", das kartografisch genau beschriebene Geflecht der Macht - "eine große Erzählung als soziales Patchwork".

Eva Menasse bedankt sich für die "große Ehre", die ihr der Kollege, ja Verlagskollege an diesem "besonderen Abend" angedeihen lässt. Und es ist tatsächlich eine besondere Begegnung, ein "wahres Gipfeltreffen deutschsprachiger Literatur", wie Literaturhaus-Chefin Tanja Graf in ihren Begrüßungsworten formuliert. Zwei bedeutende, vielfach ausgezeichnete Schriftsteller treffen hier aufeinander, die sich beide immer wieder mit der Zeitgeschichte auseinandersetzen: Eva Menasse seit Werken wie "Vienna" oder "Der Holocaust vor Gericht" über den Prozess um den britischen Revisionisten David Irving, Uwe Timm in ungezählten Romanen von "Der heiße Sommer" bis "Ikarien". Ein Literaturhaus-Abend für ihn zum 80. Geburtstag im vergangenen Jahr fiel pandemiebedingt aus; da er an einem neuen Buch schreibt, wie Graf verrät, wird er jedoch vielleicht bald wieder in eigener Sache auf dem Podium sitzen.

Eva Menasses Roman "Dunkelblum" umkreist die albtraumhafte Vergangenheit eines Dorfes

An diesem Abend stellt er sich ganz in den Dienst einer anderen Sache, die ihn merklich beschäftigt. Ihn beeindruckt die "besondere Leistung" Menasses, in "Dunkelblum" die albtraumhafte Vergangenheit eines österreichischen Dorfes zu umkreisen, in dem gegen Kriegsende ein Massaker an jüdischen Zwangsarbeitern verübt wurde - und dabei nicht eine "kriminalistische Suche" zu beschreiben, sondern "wie es sich durch kleine Anlässe wieder ins Bewusstsein der Bewohner drängt". Als Eva Menasse ein Kapitel vorliest, wird das sofort nachvollziehbar: Nicht nur gibt ihre melodiös modulierende Stimme dem dialektal unterfütterten Text eine eigene Grundschwingung; es wird auch exemplarisch die Virtuosität ihrer Figurenzeichnung spürbar, die fast unmerklich von der Gegenwart in die Vergangenheit zu gleiten vermag. Resi Reschen, um die es in diesem Kapitel geht, weiß wie die meisten Bewohner alles, was im Dorf passiert ist. Sie redet nur nicht über "die alten Geschichten".

Doch irgendwann kommen trotz allen Schweigens diese Geschichten wieder heraus, davon ist Eva Menasse überzeugt, zum Beispiel "durch Nachfragen von jungen Leuten". Und dass sie im Roman auf geradezu "sanfte Weise" (Timm) von fürchterlichen Verbrechen erzähle, liege daran, dass die meisten Menschen "keine Täter, sondern nur Mitwisser und Zeugen" seien, die mit ihrem Wissen allerdings befremdlich umgingen. Menasse möchte jedenfalls nicht aus heutiger Sicht mit dem Zeigefinger wedeln: "Wir leben in hochmoralischen Zeiten, und das gefällt mir nicht."

Und die vielen Figuren, fragt Timm, ob sie sich da einen Plan gemacht habe? Nein, sie schreibe "ganz organisch", sagt Menasse. Als sie merkte, dass sie immer mehr Figuren brauchte, hat sie aber doch eine Liste verfertigt und jedem ein Geburtsjahr zugewiesen, "wie auf dem Amt". Zwischendrin sei es beim Schreiben "eine komplett verrückte Schachpartie gegen mich selbst" gewesen. Und übrigens, sagt sie am Schluss: In der übernächsten Auflage soll es wegen vieler Nachfragen ein Personenregister im Buch geben. "Ich brauche es nicht", sagt sie. Doch nicht nur Kollegen mit einem gewissen Handicap werden es ihr vermutlich danken.

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