Lebensmittel Auer:"Die Verbindung nach oben hab ich. Mehr braucht's nicht"

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Lilli Auer hat als Standesbeamtin viele Paare getraut. Heute betreibt die 90-Jährige "Lebensmittel Auer" nahe Erding, ein Geschäft mit Geschichte.

Von Philipp Bovermann

Lebensmittel Auer" steht auf der Hausfassade in Grünbach, direkt an der B388, viele kennen den Laden vom Durchfahren, haben aber noch nie angehalten. Dabei kann man dort lernen, was das eigentlich heißt: "Lebensmittel", Mittel zum Leben, sind nicht nur warme Leberkäsesemmeln und Kaffee. Es ist auch das fröhliche Lachen der Besitzerin. "Auer Lilli" nennen sie alle im Dorf, schon seit sie hier als kleines Mädchen im Geschäft mitgeholfen hat. Am Sonntag ist sie 90 geworden. Der Bürgermeister, die Vereine, die Freunde kommen zum Gratulieren vorbei. "Lebensmittel Auer" ist ein offenes Haus. Also eigentlich alles wie immer.

Ein paar Tage vor ihrem Geburtstag betritt ein alter Mann mit Schnurrbart, Ohrenmütze und Regenschirm den Laden. "Servus, Lilli." Die kleine Frau, aus deren Runzeln haselnussbraune Augen strahlen, steht hinter ihrem Tresen, gerahmt von Zigarettenpackungen, Zeitungen, Chips, Dosenfisch, Lotterie-Reklame. Seit rund fünfzig Jahren kommt der Mann vorbei. Er war auf seinem Spaziergang und will sich kurz ausruhen, also macht die Lilli ihm das Nebenzimmer auf.

Es gibt alle Dinge des täglichen Bedarfs - wie zum Beispiel einen gepflegten Tratsch. (Foto: Stephan Görlich)

Eine Couch steht dort im Halbdunkel, mit einer flauschigen Decke überzogen, ein Regal voller Bücher und Krimskrams, über einem Tisch mit antiken Stühlen brennt Licht, ein Aquarium blubbert friedlich vor sich. Der alte Mann lässt sich zufrieden am Tisch nieder und beginnt in einem Magazin zu lesen. Lilli Auer setzt sich nicht dazu, sie hat keine Zeit. Der nächste Kunde steht schon vorne am Tresen.

Viele von ihnen sind Fernfahrer und machen hier eine kurze Pause, weil sie in der großzügigen Bucht am Straßenrand gut halten können. Für sie gibt es eine Back-, eine Käse- und eine Wursttheke, regalweise Chips und Süßigkeiten, aber auch, von selbstgedruckten Schildern ausgewiesen, "Kaffee", "Zucker", "Salz", "Mehl", "Öl", "Essig" - und zum Beispiel auch ein zweiteiliges Kaffeeservice, direkt neben dem Universalprägnierer. Ein "Lob dem Apfel" über der Auslage für Obst und Gemüse preist Äpfel als "die beste Speise/ für zu Hause, für die Reise".

Heute findet man sowas charmant und schwelt in Nostalgie, aber als die alte Frau Auer, Lillis Mutter, den Laden umbauen ließ und anschließend in seiner heutigen Form wiedereröffnete, im Jahr 1957, war sein Prinzip wegweisend. Als erste im Landkreis Erding führte sie das Selbstbedienungsprinzip ein. Anstatt von hinter dem Tresen zu bedienen, rechnete sie dort nur noch ab.

Aus Österreich, Italien und der Schweiz seien die Leute angereist gekommen, um sich das anzuschauen, erzählt Lilli Auer. "Keiner hat geglaubt, dass die Bauern hier mit einem Körbchen einkaufen gehen würden." Im selben Jahr hat in Köln der erste deutsche Supermarkt aufgemacht. Bei Auers aber wurde der Kunde weiterhin als Mensch behandelt.

Den Lebenmittelladen gibt es in der Form seit 1957. (Foto: Stephan Goerlich)

Das gilt bis heute. Er halte hier nicht nur wegen der Brotzeit, sondern auch "wegen dem Ratsch", sagt ein Mann aus Taufkirchen, bevor er mit einer dampfenden Leberkäsesemmel in den Schnee hinaus stapft. Mit den meisten Kunden, die an diesem Nachmittag kommen, ist die Lilli per Du, einige geben schon gar keine Bestellung mehr auf. Sie kommen einfach rein, sagen Servus, und das setzt dann einen wortlos einvernehmlichen Mechanismus aus Kaffeebrühen oder Semmel-Zurechtmachen in Gang.

Wie ein Uhrwerk, das über Jahre und Jahrzehnte treu weitertickt, ist auch "Lebensmittel Auer" ein Raum solider Beständigkeit, in dem alles seine Ordnung hat. Um zu verstehen, wo das herkommt, muss man allerdings ganz von vorn anfangen. Man muss Lilli Auer vom Krieg erzählen lassen.

Der Vater hatte damals, wo heute der Kaufladen ist, eine Schneiderei, die aber auch "Back- und Kolonialwaren" anbot. Er war außerdem Bürgermeister von Grünbach. Als die Alliierten näher rückten, befahl die SS, Grünbach werde "bis zum Letzten" verteidigt. Doch Anton Auer widersetzte sich und ließ ein weißes Bettlaken hissen. Prompt stand ein Mann mit vorgehaltener Pistole in der Ladentür - Bürgermeister Auer schlug sie zu, dann rannte er zur Hintertür hinaus in den Wald. Dort versteckte er sich, drei kalte Nächte lang.

Seine Tochter, die Lilli, hatte er während der letzten Kriegsjahre auf die Klosterschule in München-Au geschickt. Als eine Brandbombe dort einschlug, wo ihr Bett gestanden hatte, wurde sie ins Kloster Bad Wörishofen evakuiert. Die Welt versank im Chaos, aber die Nonnen schafften es, einen vom ewigen Rhythmus der Exerzitien bestimmten Tagesablauf aufrecht zu erhalten. "Das war meine schönste Zeit", beendet Lilli Auer die Geschichte. "Da war alles eingeteilt und so schön."

Ordnung ist ihr auch heute noch heilig. Fein säuberlich und irgendwie stolz stehen die Mehl- und die Puddingpackungen, die Semmelbrösel und die Essiggurken in den Regalreihen. Nur kaufen will sie heute kaum noch einer. Die meisten Leute halten nur kurz für einen Kaffee, richtig einkaufen tun sie aber woanders. "Zu mir kommen sie dann, wenn sie was vergessen haben."

Zu tun hat sie trotzdem genug. Der Online-Kartendienst Google Maps verzeichnet in der Benno-Scharl-Straße 13 in Grünbach, wo Lilli Auer jeden Morgen ihren Laden aufschließt, einen GLS Paketshop, sonst nichts. Für den guten, alten Einzelhandel mit Herz ist das eine besonders makabre Demütigung: Erst rannten die Leute lieber in die Discounter, weil die billiger waren und es schneller ging, jetzt haben sie gar keine Zeit mehr, bestellen gleich alles von zu Hause aus im Internet - und wenn der überarbeitete Paketbote mal wieder keine Zeit zum Klingen hatte, können sie das Paket jetzt bei der Auer Lilli abholen. Die darf auf ihre alten Tage Pakete entgegennehmen, um ihre "g'schissene Rente" ein bisschen weiter aufzubessern. Den richtigen Profit machen natürlich die Online-Versandhändler.

Äpfel geben "Phosphor im Gehirn", steht über der Obstauslage. (Foto: Stephan Goerlich)

Aber sie wolle sich gar nicht beklagen, sagt sie. Auch vom Aufhören und dem, was danach sein wird, will sie nichts hören. Lieber erzählt sie, wie manchmal noch Ehepaare zu ihr kommen, die sie getraut hat. Hauptberuflich, bevor sie den Laden nach ihrer Pensionierung übernommen hat, war sie Standesbeamtin der Gemeinde Bockhorn.

Das Gemeindehaus war nach der Zusammenlegung mit Grünbach, Eschlbach und Salmannskirchen im Jahr 1972 noch nicht bezugsfertig. Also arbeitete sie zunächst, während nebenan die Mutter die Kunden bediente, in dem Zimmer, wo jetzt das Aquarium blubbert. Eine "Mordslitanei" habe sie den jungen Paaren gehalten, "dass sie beieinander bleiben sollen", und einen Sekt habe es gegeben. Beim Pfarrer sei es nicht so schön gewesen wie bei ihr, hätten die Leute immer gesagt.

Geheiratet hat sie selbst nie, aber eine Tochter hat sie. Die arbeitet in einem Büro in München und hilft der Mutter nach Feierabend immer noch ein bisschen im Laden - so wie die Lilli früher selbst. Kurz vor ihrem neunzigsten Geburtstag sagt sie nochmal "mei oh mei, die Arbeit", aber wünschen tut sie sich nichts. "Die Verbindung nach oben hab ich. Mehr braucht's nicht."

© SZ vom 12.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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