Fast 37 000 Menschen wohnen in der Stadt Erding. Die sogenannte Tagesbevölkerung beträgt jedoch nur gut 34 000 Menschen. Eine Differenz von fast dreitausend? Der Schwund ist kein Rechenfehler in der Statistik, sondern drückt das Pendlersaldo aus. Tagein, tagaus verlassen fast 12 000 Erdingerinnen und Erdinger ihre Stadt, während knapp 9500 von außerhalb hierher anreisen. Insgesamt pendeln an Werktagen also etwa 21 500 Menschen von und nach Erding - und ganz viele tun es mit der S-Bahn.
Der Autor dieser Zeilen gehörte nur zwei Monate dazu. Er machte in dieser Zeit einprägsame Erfahrungen, die er nicht vergessen, aber auch nicht unbedingt missen wird. Er reiste antizyklisch gegen den großen Pendler-Strom von München zur Endstationen Erding: Die S-Bahnen in dieser Richtung sind um kurz nach neun Uhr so gut wie leer. Abends auf der Rückfahrt nach München herrscht wieder im Wortsinn gähnende Leere.
Der ein oder andere schläft bei der morgendlichen Hinfahrt nach Erding, und die Badegäste der Therme bleiben in Altenerding um die Uhrzeit auch aus. Dabei nutzen im Landkreis Erding rund 12 000 S-Bahn-Fahrgäste täglich die S2. Am Bahnhof Erding steigen um die 5000 Fahrgäste ein und aus, in Altenerding immerhin rund 3500. Das sagen zumindest die Zahlen einer Befragung des MVV aus dem Jahr 2017.
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In den vergangenen Jahren dürfte sich einiges verändert haben, vor allem was den Anteil der Pendelnden in den Zügen anbelangt. Viele Arbeitende würden nach Corona öfter im Home Office bleiben, mutmaßt man bei der Bayerischen Eisenbahngesellschaft. Denn genaue Zahlen habe man nicht, heißt es auf Anfrage: "Da wir keine zusätzlichen Fahrgastbefragungen durchführen, können wir leider keine Auskünfte zur Anzahl an Pendlerinnen und Pendler, das heißt über Fahrgäste zu beruflichen Zwecken, geben."
Ein der Regel genügt ein kurzer Blick, um zu wissen, wer in der S-Bahn in "beruflichen Zwecken" unterwegs ist und wer nicht. Müde oder gestresste Gesichter sind ein klares Indiz.
Wen wundert es, dass die Leute im Home Office bleiben? Der S-Bahn-Zug kommt so oft zu spät und steht nach Sturm und Regen zu oft ganz still. Der Autor dieses Textes war nur wenige Wochen Erding-Pendler, und hat doch einiges erlebt. Anfang Juli, nach einem der zahlreichen Unwetter in diesem Sommer brauchte er morgens vier Stunden vom Münchner Norden bis nach Erding. Um eine derart rekordverdächtige Zeitspanne zusammenzubringen, musste schon das kompletten Programm geboten werden.
In Markt Schwaben wurde eine Streckensperrung durchgesagt. Alle Fahrgäste sollten bitte aussteigen und zur nahegelegenen Bushaltestelle, dort warte der Schienenersatzverkehr. Angekommen an der Haltestelle kam dann umgehend die Planänderung: "Nein, die S-Bahn fährt doch!" Also alle zurück. Sobald die Zugtüren sich geschlossen hatte, erklang erneut eine Durchsage: "Die S2 verkehrt heute aufgrund einer Streckensperrung nicht. Bitte nutzen sie den Schienenersatzverkehr."
Laut dem MVV liegt die Pünktlichkeit der S2 bei 91,4 Prozent
Später an diesem Tag war die Rückreise nach München zwar kürzer, doch fast drei Stunden lang. Was aber auch daran lag, dass der unerfahrene S2-Nutzer nicht wusste, dass sich Taxis in solchen Ausnahmesituationen zu Bussen verwandeln, und er erstmal zögerte, den Individual-Schienenersatzverkehr im Mercedes zu nutzen.
Von Erding nach München und umgekehrt zu fahren ist mitunter eine Weltreise. Da helfen auch die Zahlen des MVV so gar nichts, weil sie in keiner Weise das persönliche Erleben widerspiegeln: 91,4 Prozent Pünktlichkeit auf der S2 bisher in diesem Jahr. Und 2022 waren es ja nur 89,2 Prozent. Die Pünktlichkeit wurde also gesteigert. Aha.
Dabei gibt es auch schöne Geschichten in der S2 zu erleben. Oder zumindest abstruse: Ein ausgestopfter Adler, der auf dem Schoß eines Mitfahrenden saß und dessen Spannweite wohl fast einmal durch den Zug gereicht hätte. Doch meistens ist es der Alltag, der hier regiert, nicht der König der Lüfte.
Wie sieht es aus mit der S-Bahn als Selbstoptimierung-Space? Man könnte arbeiten, lernen, lesen, produktiv sein. Geht das in den Stunden des Pendelns, kann man persönlich und professionell weiterkommen? So etwas glaubt nur jemand, der nicht von der Arbeit kommt. Respekt für jede, die in der S-Bahn Zeitung oder sogar ein Sachbuch liest, aber auch Respekt für jeden, der lieber schläft.
"Das Wichtigste, was wir können, ist Erinnerungen machen!"
Und vor allem: Respekt für jeden, der sich unterhält. Nicht nur, weil ja doch fast jeder gerne die Gespräche der Sitznachbaren belauscht. So wie letzthin. Eigentlich war es ein Start in den Tag, bei dem während der S-Bahn-Fahrt der Wunsch aufkam, sofort wieder in die andere Richtung nach Hause fahren. Doch dann, italienische Gesprächsfetzen. Auf dem Nebensitz saß ein älterer Neapolitaner in einem himmelblauen Maradona-Trikot, darüber eine Goldkette und mit einer Brille in goldener Fassung. Auf die Frage, "Sind sie aus Neapel?", antwortete er: "Ja! Neapel ist voller Leben, laut wie Feuerwerk. Hier, in der S-Bahn ist es fast immer still." Als er nach zehn Minuten heiter-lautem Gespräch ausstieg, war eine Bekanntschaft geknüpft: "Jeden Morgen bin ich um die Uhrzeit im ersten Waggon. Wir sehen uns!"
Sehr oft ist es leise in der S-Bahn. Manchmal aber durchbricht ein Satz die Stille, der nicht im halbleeren Waggon verhallen sollte. Kurz hinter Altenerding gratulierte ein alter Mann im schwarzen Frack jemanden lautstark am Telefon zum Geburtstag: "Das Wichtigste, was wir können, ist Erinnerungen machen! Also schön leben! Mach es gut."
Eines wird dem Verfasser dieser Zeilen immer im Gedächtnis bleiben. Am seinem ersten Arbeitstag auf den Weg in die Redaktion in Erding ließ er sein SZ-Arbeitslaptop in der S-Bahn liegen - und sah schon sein restliches, kümmerliches Arbeitsleben an sich vorbeiziehen. Doch ein ehrlicher Finder hat das Laptop am Münchner Ostbahnhof abgegeben und sogar noch etwas Ordnung in die Laptop-Tasche gebracht. Von diesem schlimmen Pendel-Tag bleibt letztlich ein gutes Gefühl: Vielen Dank dem unbekannten Finder! Oder wie es im internationalen S-Bahn-Jargon hieße: "Thank you for travelling on the S2 with me."