Editorial:Perspektivwechsel

Die Reihe sucht Antworten auf die Frage, wer die eigentlich sind, diese Flüchtlinge? Und was sie über Einheimische denken?

Editorial von Korbinian Eisenberger

Editorial: In der Rubrik "Neue Heimat" schreiben vier geflüchtete Journalisten seit Sommer 2016 für die SZ.

In der Rubrik "Neue Heimat" schreiben vier geflüchtete Journalisten seit Sommer 2016 für die SZ.

Liebe Leserinnen und Leser,

ein Mann berichtet darüber, wie er im Wiesnzelt sitzt und sein Hendl bis zum letzten Knochen verspeist. Er beschreibt die irritierten Blicke der Zeltbesucher, wie sie ihn entgeistert anschauen, während die Knochen zwischen seinen Zähnen knacken. Und die Leser jubelten - aus einem Grund: Weil da jemand ein gegrilltes Huhn vertilgte, nicht mal die Knochen übrig ließ und sich dabei die ehrliche Frage stellte, warum einen hier deswegen alle so komisch anschauen.

Darum geht es doch, egal, ob man Lokaljournalist ist oder Korrespondent in Südasien, egal, ob man in München wohnt, oder in Kabul: Es geht um Fragen, die einem der Alltag entgegenschleudert. Die vier Journalisten Lillian Ikulumet, Olaleye Akintola, Nasrullah Noori und Mohamad Alkhalaf haben in dieser Angelegenheit zuletzt viel Material sammeln dürfen. Wer als Reporter aus seinem Heimatland flüchten muss und sich plötzlich in einem anderen Land, ja teils in einer anderen Welt, wiederfindet, den muss es vor lauter Fragen fast zerreißen. Dem Mann, der Hendlknochen als Delikatesse kennt, dem ging es so. Und so kam er mit einer dieser Fragen zur Süddeutschen Zeitung.

Es war ein Tag im April 2016, da spazierte Olaleye Akintola ins Büro der Ebersberger SZ, eine der Landkreisredaktionen der Süddeutschen Zeitung. Er stellte sich als nigerianischer Journalist vor, erzählte von seiner Flucht. Über seine gut trainierten Zähne sagte er da erst einmal noch nichts. Stattdessen stellte er diese eine - damals durchaus überraschende - Frage: "Can I write for you guys?"

Es brauchte einige Tage, um zu verstehen, dass in dieser kleinen Frage Akintolas große Antworten stecken könnten. Antworten auf so manches, was damals vor knapp zwei Jahren, aber auch jetzt noch für viele neu und unnahbar erscheint. Antworten auf die Frage, wer die eigentlich sind, diese Flüchtlinge? Wie sie so drauf sind? Was sie eigentlich hier wollen? Und was sie über die Einheimischen denken?

Mit Beginn der großen Fluchtbewegungen vor zweieinhalb Jahren wurde zwar oft über Flüchtlinge berichtet. Doch selten von ihnen. Diejenigen, um die es hier hauptsächlich geht, kommen selbst kaum zu Wort, werden selten zitiert. Die Kolumne "Neue Heimat", die jeweils freitags auf der Leute-Seite erscheint, geht einen anderen Weg. Ziel ist es, eine Verbindung zu schaffen, zwischen den Einheimischen und den Zugewanderten. Die Autoren schreiben über ihre Beobachtungen in Oberbayern, über ihren neuen Alltag, oft über ganz einfache Dinge: Sauna, Geisterbahn, Autowaschanlage. Ihr Ziel haben die Autoren mit ihren Texten sehr oft erreicht - wenn auch nicht immer. Indikator sind hier die Leserbriefe und die Reaktionen im Internet. Nasrullah Nooris Überlegungen zu den Nackerten im Englischen Garten etwa, die - wie er schreibt - in Afghanistan hinter Gitter landen würden, führten zu kontroversen Debatten. Den einen gefiel seine kritische Auseinandersetzung, anderen nicht. Oder Mohamad Alkhalaf, der die Herzen der Leser ganz auf seiner Seite hatte, als er kurz vor Weihnachten eine Szene beschrieb, wie ein Nachbarsbub seinen üppig beschriebenen Wunschzettel zerriss und dann nur noch diesen einen Satz drauf schrieb: "Liebes Christkind, ich wünsche mir, dass der Krieg in Aleppo zu Ende geht."

Der Perspektivwechsel (die Analyse des Münchners und des Bayern) kann erfreuen und erhellen. Die Leser reagieren oft überrascht, oft erheitert, und manchmal auch erbost. Zuletzt fühlten sich die Münchner Yoga-Fans leicht missverstanden, als Lillian Ikulumet nach drei Wochen Yoga-Training kundtat, dass sie sich fühle wie nach einem "Voodoo-Ritual, bei dem man selbst die Puppe ist". Noch größere Aufregung gab es ob der Ausführungen Olaleye Akintolas zu einer Gepflogenheit in Südwest-Nigeria, Hunde bei einem Festmahl zu verspeisen, "am besten schmecken sie mir geröstet vom Grill", schrieb er. Dieser detaillierte Einblick überraschte zwar, erfreute aber nicht zwingend jeden, das gaben uns einige Leser deutlich zu verstehen. Aber auch das gehört eben zum Journalismus: Man muss auch mal anecken dürfen.

Olaleye Akintola sagte dazu mal, wie besonders es für ihn sei, jetzt wo er nicht mehr verfolgt wird, endlich ein Freier Journalist zu sein. Und wer weiß, vielleicht war ja so mancher vergraulte Leser wieder versöhnt, als Akintola nach seinem Hendlschmaus resümierte: "Man mag mir jetzt entgegenhalten, dass Knochen nur etwas für Hunde sind, aber das stimmt nicht, weil ich bin kein Hund. Im Gegenteil, es beweist viel mehr, welch guten Geschmack Hunde haben müssen."

In dieser SZ-Sonderveröffentlichung sind die 50 besten Texte aus eineinhalb Jahren "Neue Heimat" für Sie gebündelt und mit Hintergrundinfos sowie Videos zu den Autoren angereichert. Viel Freude beim Lesen!

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