SZ-Adventskalender:Nach der Hölle kommt das Leben

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Eine alleinerziehende Mutter aus dem Landkreis hat ein Martyrium hinter sich. Nun drohen Geldsorgen

Von Franziska Langhammer, Ebersberg

Wenn man Amira S. nach ihrer Geschichte fragt, sollte man sich besser hinsetzen. Sie ist Mitte dreißig und hat ein Leben hinter sich, das viele nicht überlebt hätten, seelisch wie körperlich. Ihre Stimme wird manchmal leiser, doch während des ganzen Gesprächs klingt sie kraftvoll; an einigen Stellen muss Amira S. Pausen machen, um sich zu sammeln. Um sie und ihre Kinder zu schützen, wurde ihr Name in diesem Text geändert.

"Ich bin in Marokko geboren, in einem kleinen Ort, weit weg von der Stadt", beginnt sie zu erzählen, "leider." Sie wächst in einer muslimischen Familie auf, traditionell, wie sie betont. Denn das, was ihr widerfährt, hat nichts mit Religion zu tun. Mit 13 Jahren wird sie mit einem Mann verheiratet, den sie noch nie zuvor gesehen hat. Er ist 29 Jahre älter und wohnt in Spanien. Dorthin, so die Übereinkunft mit dem Großvater, soll auch Amira S. ziehen. Bis sie 16 Jahre als ist, hat sie mit ihrem Ehemann keinen Kontakt, sie hat noch nie mit ihm telefoniert, kein Bild von ihm gesehen. Sie steigt in das Flugzeug, fliegt in eine ungewisse Zukunft und landet in einer Realität, die einem Albtraum gleicht.

Eigentlich soll Amira S. die erste Zeit bei der Schwester ihres Mannes wohnen, um ihn nach und nach kennen zu lernen. Dann soll es eine große Hochzeit in Marokko geben; ein Fest, das dort sehr wichtig ist. Aber dazu kommt es nie. "Er hatte seiner Schwester gar nichts erzählt", sagt Amira S. "Ich war in seinem Haus allein, ich war schockiert." Was dann passiert, darüber kann sie nicht sprechen. Sie sagt: "An Tag Eins hat er mich tot gemacht. Mein Leben war zu Ende."

Zwei Jahre darf Amira S. das Haus nicht verlassen, ihre Familie nicht kontaktieren. Damit sie nicht sieht, unter welchen Umständen Amira S. lebt, darf auch die Schwester des Mannes nicht zu Besuch kommen. Ein Jahr nach ihrer Ankunft in Spanien kommt die erste Tochter zur Welt, ein Jahr später die zweite. Beide sind in Vergewaltigungen gezeugt worden, erzählt S. Sie benutzt das spanische Wort "violación"; es fällt ihr nicht leicht, es auszusprechen. Ihr Mann, der als Metzger arbeitet, jedoch immer mehr den Drogen und dem Alkohol verfällt, verbietet ihr, einen Sprachkurs zu machen. Er wirft ihre Bücher weg, die sie aus Marokko mitgenommen hat. "Er wollte nicht, dass eine Frau mehr weiß als er", vermutet S. Sie schaut täglich spanisches Fernsehen und lernt so die Sprache des Landes, in dem sie lebt. Ein Schritt, den ihr Mann nie geschafft hat: Er spricht kaum Spanisch. 2009 zieht die Familie in eine andere Stadt. "Dort habe ich angefangen, nein zu sagen", erinnert sich Amira S. Sie erledigt nun das, was ihr Mann nicht machen kann, geht raus, bringt die Kinder in die Schule. Gleichzeitig nimmt der Drogenkonsum ihres Mannes zu, beinahe jeden Tag zwingt er sie zum Sex, oft mit vorgehaltenem Messer.

Der Schulpsychologe merkt am Verhalten der Kinder, dass es in der Familie Probleme gibt. Lange Gespräche mit Amira S. beginnen, endlich kann sie von ihrem Martyrium erzählen. Ihr Selbstvertrauen wächst, und immer wieder wird ihr geraten, ihren Mann anzuzeigen. Die Gewalt zuhause nimmt weiter zu. "Wenn ich nein sage, schlägt er und schlägt und schlägt", sagt S. Die Erinnerung daran scheint so gegenwärtig, dass sie auch im Erzählen nun kurzzeitig ins Präsens wechselt. Sie wird erneut schwanger, ihr drittes Kind. Die Jahre ziehen ins Land, die Situation zuhause verschlimmert sich weiter. "Er wurde immer aggressiver", sagt S. Sie kauft schließlich ein kleines Handy, das sie sorgsam vor ihrem Mann versteckt hält. Eines Abends, so formuliert es S., weiß sie, dass er weiter gehen wird. Er schlägt und vergewaltigt sie und zeigt auf die Tür: "Du und deine Kinder, ihr kommt nicht lebend aus dieser Tür." Amira S. wird ganz ruhig. Sie wartet, bis er das Zimmer verlässt; dann sucht sie fieberhaft nach ihrem Handy und wählt den Notruf. "Dann waren alle da, Krankenwagen und Polizei", sagt Amira S. "Das war der Anfang meines Lebens."

Zwei Jahre muss ihr Mann ins Gefängnis. Obwohl die Familie aus Marokko zu beschwichtigen versucht - "Jede Familie hat Probleme" -, reicht Amira S. die Scheidung ein. Sie und ihre Kinder nehmen psychologische Behandlung in Anspruch, um das Vergangene zu verarbeiten. Weil es in Spanien kaum staatliche Unterstützung gibt, beginnt Amira S. zu putzen, um sich und ihre Kinder zu ernähren. Sie macht Kurse, bildet sich fort, wird schließlich in einer Bäckerei mit kleinem Café angestellt. Anfangs ist das wegen ihrer Erfahrungen schwierig für sie: Wenn sie Männer sieht, bekommt sie Panikattacken. Erst nach und nach legt sie ihre Angst ab.

Schließlich wird ihr Mann aus dem Gefängnis entlassen, darf sich seiner Familie aber nicht nähern. Die Polizei ist immer vor Ort, schützt Amira S. und ihre Kinder. Also schickt der Mann Freunde, die ihr Angst machen sollen. Für die Kinder zahlt er keinen Cent.

Amira S. macht sich gut in ihrem Job, wird immer weiter befördert. Irgendwann leitet sie die Produktion und das Personal. Der seelische Stress der vergangenen Jahre fordert aber seinen Tribut. Im Mai 2017 merkt sie, dass sie nicht mehr kann. Sie steht vor der Frage: Was ist wichtiger, Gesundheit oder Job? Amira S. kündigt. Die Kinder sind ein paar Wochen bei der Oma in Marokko in den Ferien, da erzählt eine Freundin aus München von einem Job. Amira S., die inzwischen das Kopftuch abgelegt und den Führerschein gemacht hat, setzt sich in ihr Auto und fährt los. Drei Tage dauert die Reise, aber eigentlich will sie niemals ankommen. In Bayern probiert sie sich als Fahrerin, arbeitet tagsüber für die Deutsche Post und nachts für Zeitungen. Sie beschließt, ein neues Leben in Deutschland zu beginnen. Sie holt ihre Kinder zu sich und findet über einen Bekannten eine Wohnung in einer kleinen Gemeinde im Landkreis Ebersberg. Weil der Fahrtweg zur Arbeit auf Dauer zu lang ist, wechselt sie den Job und kommt in der Gastronomie unter.

Seit drei Jahren wohnt Amira S. nun im Landkreis und spricht mittlerweile gut Deutsch. Ihre Kinder haben Freunde gefunden und gehen gern zur Schule. Wegen Corona musste der Laden, in dem S. arbeitete, schließen. Wie die Zukunft finanziell zu stemmen sein soll, weiß Amira S. nicht. Gerade hakt es an den alltäglichen Sachen; einen Trockner zum Beispiel könnte die Familie gut gebrauchen. Oder Fahrräder für die Kinder, die auf den Bus angewiesen sind, der in ihrem Ort nur selten Halt macht. Wichtig ist Amira S. aber vor allem eines: Dass ihre Töchter es einmal besser haben. "Sie sollen niemals mit gesenktem Kopf durch das Leben gehen müssen", sagt Amira S. "Niemals."

© SZ vom 28.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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