SZ-Adventskalender:Keine Auszeit

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Dass jemand ihnen die Hand hält, da ist - das wünschen sich Menschen, die nach vielen Schicksalsschlägen kein eigenständiges Leben mehr führen können. (Foto: Jens Wolf/dpa)

Vor 15 Jahren kracht ein Autofahrer in den Wagen, in dem Hilde G. sitzt. Die Frau wird dabei so schwer verletzt, dass sie bis heute ständig Schmerzen hat. Ohne Sauerstoffgerät bekommt sie keine Luft.

Von Viktoria Spinrad, Grafing

Am 4. September 2003 ist das bisherige Leben von Hilde G. (Name von der Redaktion geändert) mit einem Schlag vorbei. Genauer gesagt, mit zwei Schlägen. Sie ist mit ihrer Schwiegertochter auf einer Landstraße unterwegs, hinten sitzen deren Kinder, zwei und drei Jahre alt. Da knallt es. Einmal, zweimal. Genau dort, wo Hilde G. sitzt, spürt sie den Schlag, dort bohrt sich ein Auto in die Beifahrerseite. Der Fahrer wollte eigentlich auf die Autobahn. Stattdessen schlägt er mit aller Gewalt in das Leben von Hilde G. ein.

15 Jahre später, ein Wohnzimmer in Grafing. Hilde G., 63, feine Gesichtszüge, geschwungene Augenbrauen, sitzt in einem Sessel. Alle paar Sekunden zischt es. Es ist das Sauerstoffgerät, an das die Frau angeschlossen ist. Auf dem Tisch liegen Morphiumtabletten. Früher war sie lebenslustig, kontaktfreudig, "ein Workaholic", erzählt sie. Heute ist sie Schmerzpatientin. "Ich vermisse mein Leben so sehr", sagt sie.

Während die Schwiegertochter und die Kinder bei dem Unfall mit Prellungen davon kamen, brach sich Hilde G. den halben Körper. Fortan hatte sie nicht nur physische Dauerschmerzen, sondern auch Depressionen. Immer wieder, wie aus dem Nichts, überfallen sie heftige Erinnerungen an jene Augenblicke, "Flashbacks" nennen das die Psychologen. Von heute auf morgen konnte sie nicht mehr als Hauswirtschafterin im Altersheim arbeiten. Ein Knochenjob, war es, ja, "aber ich habe es gern gemacht".

Das Sauerstoffgerät zischt, sie hebt die Tasse, ihre Hand zittert. Die Liste ihrer Beschwerden scheint endlos. Lungenemphysem, Nervenerkrankung, Weichteilrheuma - ihr Immunsystem ist schlicht kaputt. Dazu kommt ein lebensverkürzender Gendefekt. "Also alles, was man nicht braucht", sagt Hilde G. Sie ist zu 100 Prozent schwerbehindert. Sie kann nicht mehr schreiben, stricken, puzzeln, sich mit Freundinnen auf einen Kaffee treffen. "Eigentlich kann ich nichts mehr", sagt sie.

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(Foto: Catherina Hess)

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Da sind aber auch die anderen Momente. Wenn sich ihr von Schmerzfalten durchzogenes Gesicht aufhellt, ihre Augen leuchten, sie herzhaft lacht. Das passiert vor allem dann, wenn sie von ihrer kleinen Enkelin erzählt. Sie malt mit dem Finger die Wege nach, auf denen das 20 Monate alte Mädchen durch die Wohnung flitzt. "Die ist so viel unterwegs, die kann gar nicht zunehmen!" Dann wird sie nachdenklich, sinniert darüber, wie schnell die Zeit vergeht.

Oder über die anderen Schicksalsschläge in ihrem Leben. Die Eltern ließen sich scheiden. Hilde G. wuchs bei der launischen Mutter auf, flüchtete sich in eine Ehe. Mit 19 Jahren verlor sie ihr erstes Kind. Da war das Baby gerade zwei Wochen auf der Welt. Auch mit den Männern hatte sie kein Glück. Ihr erster Mann warf ihr einmal einen Aschenbecher nach. "Da hatte ich so ein Gesicht", sagt Hilde G. und umrahmt ihre Wangen mit den Händen. Das Sauerstoffgerät zischt. Als die zweite Tochter sechs Monate alt war, verließ der Mann die Familie und zahlte keinen Unterhalt. Um die Familie über Wasser zu halten, arbeitete Hilde G. auch nachts. "Sie wollte uns eine normale Kindheit ermöglichen", sagt die Tochter. Normalität kehrte gab es auch in ihrer nächsten Beziehung nicht. Der Mann schlug sie, hinterließ Schulden.

Doch dann kam Thomas. Ein liebevoller, zuverlässiger Mann. Mit ihm hätte es gut gepasst. Doch Thomas lebt nicht mehr. Eine Bekannte habe ihn mit einem Chemiecocktail umgebracht und der Kripo erklärt, sie habe ihn nur aufheitern wollen, erzählt Hilde G. Wie auch immer - Thomas ist tot. "Eine Katastrophe."

Als solche könnte man auch ihre finanziellen Verhältnisse bezeichnen. Mit Rente und Grundsicherung kommt sie auf 800 Euro. Dass sie damit überhaupt über die Runden kommt, liegt auch daran, dass sie bei ihrer Tochter lebt. Die ist zugleich auch ihre Vollzeit-Pflegerin - und das seit 15 Jahren. "Sie macht wirklich alles für mich", sagt Hilde G. "Ich kann die Mama ja nicht alleine lassen", erklärt die Tochter. Und so leben die drei Generationen unter einem Dach - die Tochter mit dem Wissen, dass ihre Mutter vollständig von ihr abhängig ist. Neben ihrer Arbeit mit der kleinen Tochter, neben einer Umschulung. Tag und Nacht. Im Urlaub war Hilde G.s Tochter zum letzten Mal vor zehn Jahren, drei Wochen Reha im Schwarzwald. Ihre Mutter kämpft mit einem schlechtem Gewissen. Die Lösung wäre eine zeitlich begrenzte 24-Stunden-Betreuung. Doch die ist viel zu teuer. Hilde G. weiß das. Sie weiß aber auch, dass ihre Tochter eine Pause braucht. "Wenn ich mal im Lotto gewinne, dann kommt ihr mal raus", sagt sie häufig. Sie wünscht ihrer Tochter eine Auszeit aus der Pflegeschleife. Damit die sich wenigstens ein Stück Leben zurückholen kann.

© SZ vom 15.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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