"Geld oder Leben!", hört man eine Handvoll Piraten rufen, während sie zu der Titelmelodie des Blockbusters "Fluch der Karibik" das Schiff "Nessy" überfallen. Die Besatzung hält dagegen: "Geld nein, Leben ja! Die Lebenshilfe ist sehr wichtig!" Und so ziehen sie gemeinsam los, Schiffscrew und Piratenbande, mit dem gemeinsamen Ziel der 50-Jahr-Feier des Lebenshilfe- Kreisverbands Ebersberg. Die Gäste staunen nicht schlecht, als plötzlich aus dem Ende des Veranstaltungsraums ein großes gebackenes Herz hereingetragen und der Vorsitzenden der Ebersberger Lebenshilfe, Karin Oechslein, übergeben wird.
Mit dieser Einlage gratuliert die Theatergruppe von Billy Lord dem Lebenshilfeverein Ebersberg zum 50. Geburtstag. Der Theaterclub, mit dem geistig behinderte Menschen nun nach der Corona-Zwangspause endlich wieder im ganzen Landkreis auftreten, besteht seit 28 Jahren und hat dieses Stück eigens für das Jubiläum ihres Fördervereins abgeändert. "Am Mittwoch vor einer Woche haben wir das Stück schon im Alten Speicher vor der französischen Delegation der Special Olympics aufgeführt", erzählt Billy Lord, sichtlich stolz auf seine Theatergruppe.
Der Auftritt war Teil eines bunten Bühnenprogramms, das nun am Samstag die Feierlichkeiten im Einrichtungsverbund Steinhöring (EVS) begleitete. Die Volkshochschule Grafing war mit einem Akkordeonspiel und zwei Schuhplattlern vertreten, außerdem trat das frisch gegründete Duo Stubenmusi aus dem Betreuungszentrum auf, das mit Keyboard und Holzlöffeln die Gäste zum eifrigen Mitklatschen animierte. Die inklusive Band Rotes Motorrad, die dieses Jahr ihr 30-jähriges Bühnenjubiläum feiert, lieferte die musikalische Untermalung bei Kaffee und Kuchen am Nachmittag.
Die Lebenshilfe Ebersberg ist eine gemeinnützige Vereinigung zur Unterstützung von Menschen mit Behinderung und deren Familien. Seit seiner Gründung 1973 bietet der Verein Beratungen in allen möglichen Lebensbereichen an und fördert die Einrichtungen des EVS, der zwei Jahre zuvor 1971 gegründet wurde. Als ehrenamtlicher Elternverband gibt es keine Geschäftsstelle, anders als die Bundesvereinigung oder große Verbände wie die Münchner Lebenshilfe. Finanziert wird der Verein durch Spenden und Mitgliedsbeiträge, zusätzlich gehören der Lebenshilfe Ebersberg Eigentumsanteile eines Wohnhauses in Eglharting.
Die Lebenshilfe ist geknüpft an die Menschen des Einrichtungsverbunds Steinhöring
Alle Einnahmen kommen den Menschen des Einrichtungsverbundes zugute - in dem 1500 geistig behinderte Menschen begleitet werden, von der Kindheit bis ins Seniorenalter: Für die Zeit nach dem Besuch des Steinhöringer Montessori-Kindergartens gibt es die Heilpädagogischen Tagesstätten in Grafing und Steinhöring, bis zum 21. Lebensjahr können die Kinder und Jugendlichen dann die Korbinianschule in Steinhöring besuchen. Für den Einstieg ins Berufsleben bieten die Steinhöringer Werkstätten berufliche Qualifizierungen in zwölf verschiedenen Arbeitsbereichen an. "Ein häufiges Problem in Familien von geistig behinderten Kindern ist die Überbehütung", sagt Karin Oechslein, deren Sohn selbst in einer WG des EVS lebt. "Es ist wichtig, loszulassen, damit das Kind seinen eigenen Weg gehen kann." Deshalb brauche es das umfassende Angebot des EVS, denn es hilft auf diesem Weg.
"Wir konnten dank der Lebenshilfe schon Dinge wie spezielle Fahrräder für Menschen mit Behinderung, höhenverstellbare Betten oder Teile eines neuen Spielplatzes finanzieren", sagt Philipp Reichardt-Nein, Mitglied im Vereinsvorstand. "Stolz sind wir, dass wir durchgehalten haben, auch in der Corona-Zeit, und für unsere Mitglieder und Betreuten immer zur Verfügung standen", ergänzt Karin Oechslein. Bei juristischen Fragen von Familien würde die Lebenshilfe im Rahmen ihrer Möglichkeiten beraten, so die Vorstandsvorsitzende weiter. Ansonsten werde auch mal weitervermittelt, zum Beispiel an die Behindertenbeauftragte des Landratsamtes oder den Landesverband der Lebenshilfe.
Doch nicht nur die Beratung der Familien, auch die Einflussnahme auf politische Entscheidungen ist ein wichtiger Teil des Engagements der Lebenshilfe. So befürwortet die ehemalige SPD-Gesundheitsministerin und jetzige Bundesvorsitzende der Lebenshilfe, Ulla Schmidt, das seit 2020 schrittweise in Kraft tretende Bundesteilhabegesetz für mehr Selbstbestimmung geistig behinderter Menschen in Deutschland. Vor Jahren war Ulla Schmidt schon einmal zu Gast im EVS, der Lebenshilfe war es eine Ehre, sie nun wieder begrüßen zu dürfen: "Wir empfinden es als große Wertschätzung unserer Arbeit, wenn zu unserem Jubiläum so viele Ehrengäste erscheinen", sagt Oechslein.
Im weiteren Verlauf ihrer Rede übt Schmidt aber durchaus auch Kritik, denn die Bundesregierung setze die Ziele des Gesetzes nur zögerlich um, in vielen Bundesländern stocken die Verhandlungen aufgrund von Kostenfragen. Besser laufe es bei der Beteiligung an der Gesetzgebung für mehr Inklusion in der Kinder- und Jugendhilfe, allerdings sei auch hier mehr finanzieller, rechtlicher und personeller Aufwand notwendig.
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Neben der ehemaligen Bundesministerin waren unter anderem auch der Bundestagsabgeordnete Andreas Lenz (CSU), der Bezirkstagspräsident Josef Mederer, die stellvertretende Bundesvorsitzende der Lebenshilfe Monika Haslberger, der Landtagsabgeordnete Thomas Huber (CSU) und Elisabeth Platzer (SPD), als Vertreterin des Landrats zu Gast. Landtagsabgeordnete Doris Rauscher (SPD) gibt in einem der insgesamt neun Grußworte Ausblick auf einen ganz besonderen "Moment, in dem man Inklusion handfest erleben kann": Am Tag nach der Jubiläumsfeier fandt der Ebersberger Stadtlauf statt, bei dem der EVS dieses Jahr die größte Teilnehmergruppe stellte. Das sei ein starkes Beispiel dafür, wie gut das gemeinsame Zusammenleben im Landkreis funktioniere und ein Anreiz für die Lebenshilfe und Politik, weitere Projekte zu starten, so Rauscher.
Dass dafür aber definitiv mehr Geld in die Hand genommen werden muss, darüber waren sich die Vertreterinnen und Vertreter der Lebenshilfe einig. Wie war das doch gleich? "Geld nein, Leben ja! Die Lebenshilfe ist sehr wichtig!" Vielleicht waren diese Worte des kleinen Theaterstücks zu Beginn des Festes eine versteckte Aufforderung an die Politikerinnen und Politiker im Raum? Wer weiß.