Buch und Ausstellung geplant:Der Zauber des Zeichnens

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"Ohne Dach, ohne Ofen, ohne Bett": Die Grafinger Künstlerin Sabine Roidl will Menschen ohne feste Bleibe eine Bühne bieten

Von Michaela Pelz

Der gut gekleidete, eloquente Herr um die Sechzig erinnert Sabine Roidl an einen bekannten Schlagersänger. Auch in Sachen Charme kann der Mann es mit dem Barden aufnehmen. In einer Hinsicht allerdings gibt es einen gravierenden Unterschied zwischen den beiden: Als der Star 2014 starb, stand er kurz vor dem Umzug in eine Villa. Roidls Gegenüber hingegen nennt kein Haus, keine Wohnung, nicht einmal ein Zimmerchen sein Eigen. Er ist obdachlos.

Genau wie die anderen sechs Personen, die von der Grafinger Künstlerin seit Januar in den Räumlichkeiten des Evangelischen Bildungswerks in München porträtiert wurden. Neben Bleistiftbildern fertigt die Malerin, Illustratorin und Autorin dabei auch immer Gedächtnisprotokolle dessen an, was ihr während des Zeichnens erzählt wird. Zusätzlich ist sie mit ihrem Skizzenbuch in der Stadt unterwegs, um Obdachlose inmitten der anderen "sauberen, eilenden, reichen Menschen" zu zeichnen. Das tut sie jedoch nicht in jemandes Auftrag, ganz im Gegenteil: "Ich trage die Idee schon seit Jahren mit mir herum, wusste aber nicht, wie ich mit den Leuten in Kontakt kommen sollte", erzählt die 46-Jährige. Also schrieb sie eine entsprechende Organisation an. Die antwortete sinngemäß, Obdachlose seien kein Kunstobjekt. Also zog Roidl sich zurück.

Das Projekt trägt den Titel "Ohne Dach, ohne Ofen, ohne Bett". (Foto: Privat)

Dass trotzdem etwas aus dem Projekt wurde, ist Felix Leibrock zu verdanken. Im Gespräch auf einer Vernissage erkennt der sofort, dass sich hier jemand mit dem Herzen für jene interessiert, "bei denen man sonst wegschaut". Gut möglich, dass das an seinem Bezug zum Thema liegt: Pfarrer Leibrock ist nämlich nicht nur Chef des Bildungswerks, sondern auch Autor des Buches "Nur im Dunkeln leuchten dir Sterne", das auf seinen eigenen Erfahrungen aus einer längeren Zeit ohne festen Wohnsitz basiert. So kommt es zur Idee der Ausstellung "Ohne Dach, ohne Ofen, ohne Bett - Obdachlosigkeit in München", die am 27. Oktober eröffnet werden soll.

Zentrales Element der Schau sind Männer und Frauen, die auf der Straße leben. Schätzungen zufolge gibt es in München rund tausend, die meisten kennen sich. Einer von ihnen ist ein wahres Organisationstalent. Er wird zum Scout, führt Roidl die Modelle zu. Dafür hinterlässt er an in der Szene bekannten Plätzen gelbe kleine Zettel mit Datum, Uhrzeit und der Information, dass es für die Sitzung Geld gibt, in Höhe des Mindestlohns.

Obwohl Leibrock sie im Vorfeld mit wichtigen Verhaltensregeln ausgestattet hat ("unbedingt siezen und, ganz wichtig, die Hand geben!") ist die Künstlerin vor dem ersten Termin sehr aufgeregt. Das legt sich, als ihr bewusst wird: "Ich porträtiere keine Obdachlosen, sondern Menschen!" Zumal sie zu ihrer großen Überraschung nicht auf den abgerissenen Klischee-Clochard mit verfilztem Bart trifft, sondern auf Personen, die teilweise sehr, sehr gepflegt aussehen. Wie "Manfred" (jeder darf sich für sein Konterfei einen Namen aussuchen), der stolz seine Gucci-Jeans präsentiert, die er sich "in besseren Zeiten" nie hätte leisten können. Warum die wohl in der Kleiderkammer gelandet sei? Behalten wird er die Hose leider nicht können, weil er keine Möglichkeit zum Waschen hat. Darum gibt er sie wieder ab, sobald sie schmutzig ist, und bekommt dann Ersatz. Wo, weiß der Ingenieur genau, er kennt sich bestens aus in der Stadt. Ihm sind sämtliche 65 Ausgabestellen von kostenlosem Essen ebenso geläufig wie die Möglichkeit, an Opernkarten zu kommen. Ein Alkoholproblem hat er übrigens nicht ("Was glauben Sie: Lebt man auf die Straße, weil man trinkt? Oder trinkt man, weil man auf der Straße lebt?"), aber wie alle seine Kollegen weder ein Zuhause noch eine Arbeitsstelle. Zudem ist er krank.

Sabine Roidl, Künstlerin aus Grafing. (Foto: Christian Endt)

Das alles hat Roidl erfahren, während sie den Stift über das Papier führte. "Es wohnt ein Zauber im Zeichnen - es öffnet Herzen!" Selbst ist sie dabei ganz still, stellt bewusst keine Fragen, um das Gespräch nicht in eine bestimmte Richtung zu lenken, wenn manche geradezu sprudelnd ihr komplettes Leben ausbreiten. "Kein Wunder, sonst redet ja niemand mit ihnen." Anderen bedeutet der Körperkontakt bei der Begrüßung derart viel, dass sie die Hand von Sabine Roidl gar nicht wieder loslassen wollen. Einer fragt gar, ob sie rechts zeichnen und links seine Hand halten könne. Sie kann - und der Mann fühlt sich offenbar so wohl dabei, dass er einschläft.

Solche Erlebnisse sind es, die Roidl sagen lassen: "Noch nie hat mich ein Kunstprojekt so glücklich gemacht!" Gleichzeitig öffnet es ihr die Augen für die bittere Realität: Geschichten, die klingen wie in einem schlechten Film: Job weg, Frau weg, Wohnung weg, Abwärtsspirale. Ein täglicher Kampf um den Schlafplatz, weswegen niemand gern preisgibt, wo er die Nacht verbringt. Aggressive Situationen. Aber auch: Gegenseitige Unterstützung. Tipps, in welchem Hallenbad das Duschen am billigsten ist. Der Schwabinger Friseur, der alle paar Monate einen Nachmittag kostenlos die Haare schneidet. All das hat die gebürtige Oberpfälzerin ohne jede Wertung - "soweit das eben möglich ist" - ebenso dokumentiert wie den Bericht von "Thomas", der so viele spannende Dinge über andere erzählt, aber nicht will, dass über ihn selbst geschrieben wird.

Die Künstlerin arbeitet an einem Buch über Obdachlose in München. (Foto: Privat)

Aus all diesem Material will Sabine Roidl, zusammen mit den Porträts ihrer Modelle, den Zeichnungen aus dem Alltag der Obdachlosen sowie Gedichten und einem Gebet, ein Buch machen. "Geplant ist ein Geschenkband im doppelten Sinn - er soll auch jene, die sonst im Müll und dreckigen Ecken hausen müssen, auf die Bühne eines hochwertigen Buches heben." Inzwischen hat Roidl vom Allitera Verlag dafür sogar schon eine Zusage. Der Titel soll lauten: "Ohne Dach, ohne Ofen, ohne Bett - obdachlose Menschen im München", der geplante Erscheinungstermin ist der 27. Oktober. Sämtliche Bilder und Texte wird sich die Autorin vorher von den Beteiligten freigeben lassen, die natürlich auch zur Vernissage eingeladen werden. Bei der Gelegenheit will Roidl auch dem "Lebenskünstler" seinen großen Traum erfüllen, einen ganzen Saal mit Witzen zum Lachen zu bringen. Und wer weiß: Vielleicht gibt es ja auch jemanden, der für die Gäste singen kann?

© SZ vom 18.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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