Mitten in Ebersberg:Lauf, Jana, lauf!

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Die Nacht über der Kreisstadt ist de facto vorbei, der Tag hat sich noch nicht wirklich durch die Wolkendecke gefressen, da tönt durchs Wohnviertel ein markerschütternder Schrei.

Kolumne von Franziska Langhammer

Manche Filmszenen haben sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt, so dass sie manchmal nur leise (oder laute) Trigger brauchen, um sich wie Schablonen über die Realität zu legen. So geschehen an einem nebligen Herbstmorgen in Ebersberg. Die Nachtzeit ist de facto vorbei, der Tag hat sich noch nicht wirklich durch die Wolkendecke gefressen, da tönt durch eine Straße in einem ruhigen Wohnviertel ein markerschütternder Schrei. Nicht nur der Nachbarshund vier Häuser weiter scheint nun vollends wach, alle anderen bisher Schlafenden oder noch in der Dämmerung Befindlichen in näherer Umgebung sind es nun bestimmt auch.

"Waaaaarte noch!", schreit da ein Mädchen, "wir haben unseren Muuuundschutz vergeeeessen!" Und dann, unvermittelt, der Trigger: "Lauf, Jana, laaaaaaauf!"

Man muss nicht aus dem Fenster schauen, man kann es sich selbst ausmalen, wie das angefeuerte Mädchen, wahrscheinlich ohne Beinschienen wie einst Forrest Gump, lossprintet, langsam zuerst, doch dann immer schneller wird und schneller. Der Schulgong, ist er schon in der Ferne zu hören? Holen die Jungs mit dem Fahrrad, die sie verfolgen, sie noch ein? Es scheint dringlich zu sein, denn das Rufen wiederholt sich nochmals: "Lauf, Jana, lauf!"

Was würde Forrest heute tun? Fest steht: Die Pralinen, die er an der Bushaltestelle anderen Passanten anbieten würde, müssten steril ausreichend verpackt sein. Vielleicht würde er stattdessen auch kleine Desinfektionsfläschchen verteilen. Oder Klopapierröllchen, für die Sammler unter uns. Vielleicht würde er auch Masken-Verweigerer darauf hinweisen: "Dumm ist der, der Dummes tut." Wir werden es wohl nie erfahren. Auch nicht, ob Jana und ihre Freunde es samt Mundschutz noch rechtzeitig zum Unterricht geschafft haben an diesem nebelverhangenen Herbstmorgen.

Doch etwas optimistisch dürfen die Anwohner des Schulwegs in die nächsten Wochen blicken: Bald schon wird die Sommerzeit umgestellt, und die Nacht wird eine Stunde länger. Die Kinder haben etwas mehr Zeit, sich frühmorgens fertig zu machen, sich die Schuhe zu binden und zur Schule zu laufen. Oder, Forrest? Aber ja. Denn: "Mama sagte immer, Schuhe können dir über einen Menschen ganz schön viel erzählen. Wohin sie gehen, wo sie gewesen sind..."

© SZ vom 08.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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