Mitten in Ebersberg:Die richtige Geste zum falschen Zeitpunkt

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Wegen Corona verhält man sich seit Monaten anders als sonst. Doch manchmal darf man sich vielleicht auch über Regeln hinwegsetzen

Glosse von Franziska Langhammer

Von einigen Gesten kann man sich gar nicht mehr vorstellen, dass man sie jemals ungestraft ausführen konnte. Damit ist nicht der berüchtigte Effe-Mittelfinger gemeint oder der an die Stirn tippende Finger, mit dem man einen Vogel zeigt. Nein, viel unschuldiger: der Handschlag. Wie vielen Menschen hat man nicht im Laufe seines Lebens bereits die Hand geschüttelt, zum Kennenlernen, zum Verabschieden, als förmlichen Gruß. Alles futsch nun, seit Monaten schon.

Zu Beginn der Pandemie, man muss es selbst zugeben, ist es einem noch schwerer gefallen, nicht automatisch die Hand zu geben. Und ja, tatsächlich ist es auch einmal, ein einziges Mal, vorgekommen, dass man aus Versehen die Hand einer Interview-Partnerin geschüttelt hat. Da war großes Entschuldigen angesagt. Die Frau hat es zum Glück sportlich genommen.

Nun ist der Händedruck jedoch auch ein wichtiges Indiz, wie man Menschen einschätzt. Ein wabbliger, breiiger Schüttler ist schnell in Verdacht, nicht bei der Sache oder einfach charakterlos zu sein. Ein festes Quetschen deutet auf einen dominanten Wesenszug hin. Rückblickend auf die vergangenen Monate, wie oft lag man wohl mit seiner persönlichen Einschätzung des Gegenübers falsch, weil man ihm nicht die Hand geben konnte?

Die Antwort ist: Wohl selten. Aber nur, weil man sowieso nicht allzu viele unbekannte Menschen zu Gesicht bekommen hat. Dafür durfte man die bekannten Gesichter, die der engsten Familie nämlich, umso öfter bewundern.

Nun stand vor wenigen Tagen vor einem Supermarkt in Ebersberg eine ältere Frau. Sie hatte, so erzählte sie es einer Bekannten, kürzlich einen Angehörigen verloren. Die ältere Frau stand den Tränen nahe. Ein weiterer Bekannter nahte, hörte zu. Und ergriff schließlich, nach kurzem Zögern, die Hand der trauernden Frau, um sie zu schütteln und ihr sein aufrichtiges Beileid auszusprechen. Die Tränen der Frau nahmen nun ihren freien Lauf, aber sie schien getröstet.

Obwohl nur im Vorbeigehen beobachtet, wirkte diese Szene tief beeindruckend. Manchmal kann es auch das Richtige sein, sich über Regeln hinwegzusetzen. Manchmal beginnt Mitmenschlichkeit da, wo Abstand aufhört.

© SZ vom 28.12.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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