Mitten in der S-Bahn:Streifenkarten- Momente

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Es gibt Momenten im Fahrgast-Leben, da könnte man das Papier zum Stempeln verfluchen. Und vergisst dabei fast, welche Chancen einem das analoge Ticket bietet

Kolumne von Simon Groß

Es ist mal wieder einer dieser nasskalten Nachhausewege ins gefühlt endlos weit entfernte München. Da joggt man noch zum Bahnhof, weil zu befürchten ist, dass ausgerechnet heute die Bahn pünktlich kommt. Doch natürlich ist die Mühe umsonst, die Bahn verspätet sich: Der schnelle Anschlusszug ist damit unerreichbar und sogar die darauffolgende Bimmelbahn mindestens in Gefahr. Der Feierabend rückt in weite Ferne, die Stimmung rutscht in den Keller. Und dann wird man auch noch von der Seite angequatscht, wie diese Streifenkarte funktioniert. Dieses Relikt aus dem analogen Zeitalter, das schon vor der Umstellung der Tarifzonen Fahrgästen regelmäßig Rätsel darüber aufgab, wie viele Streifen sie nun eigentlich stempeln müssen - verflucht sei sie!

Doch so kann es wie neulich dazu kommen, dass aus den Verwirrungen der außerplanmäßigen Verspätung und der planmäßigen Benutzung der Streifenkarte eine Schicksalsgemeinschaft hervorgeht. Sie besteht aus einer Schwabinger Künstlerin, einem humanistischen Psychotherapeuten und zwei Journalisten dieser Zeitung. Die verfluchte Streifenkarte, sie entpuppt sich als wahrer Kommunikationsbeschleuniger. Sie zwingt seine Benutzer regelrecht dazu, mit anderen Fahrgästen Kontakt aufzunehmen - will man nicht das Smartphone bemühen, das Streifenkartenbenutzer aber vermutlich nicht direkt greifbar haben. Was mit dem üblichen Bahnbashing beginnt, führt schon bald darauf in unerwartete Sphären: nicht weniger als die Voraussetzungen für kreatives Arbeiten, die Verheißungen der Digitalisierung und nicht zuletzt die eigenen Lebenswege werden da verhandelt. Es ist dies - je nach Überzeugung - eine glückliche Fügung oder ein Triumph des Zufalls, in jedem Fall aber keine langweilige Heimreise.

Wer also über die Entfremdung des Menschen in einer als zunehmend anonym empfundenen Gesellschaft klagt, für den hat die MVG bestimmt auch noch eine Streifenkarte übrig.

© SZ vom 11.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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