Lesung in Zorneding:Von der Allmacht des Schnees

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Mit Schauspieler Gerd Anthoff und Musiker Erwin Rehling geht der "Literarische Herbst in Zorneding" fulminant zu Ende. (Foto: Christian Endt)

Schauspieler Gerd Anthoff unternimmt eine Reise durch vergangene Winter und farbenfrohe Landschaften

Von Franziska Langhammer, Zorneding

Der Winter ist weiß? Pah. Wer so denkt, der hat sich noch nicht literarisch mit ihm beschäftigt. Die Nuancen dieser Jahreszeit sind mit allen Sinnen erfahrbar, reichen von violetter Winterdämmerung bis hin zu blühenden Ginsterbüschen und löchrigen Eisschollen, Schritte knirschen in Schneemusik, die Luft klirrt und knackt vor Kälte. Ein Pult und seine Stimme, mehr braucht Gerd Anthoff nicht, um sein Publikum auf einen unterhaltsamen Spaziergang durch die europäische Winter-Literatur mitzunehmen. Das gedimmte Licht und die wohlige Wärme tun das ihrige, dass auch dem Letzten im voll besetzten Martinsstadel in Zorneding ganz weihnachtlich zumute wird. Die Lesung am Donnerstagabend ist - jahreszeitlich passend - der Abschluss der Kulturreihe "Literarischer Herbst in Zorneding".

Der Schauspieler Gerd Anthoff, einem breiten Publikum durch seine Rolle als zwielichtiger Unternehmer in "Der Bulle von Tölz" bekannt, ist seit vielen Jahren auf deutschen Lesebühnen unterwegs. Bei dem Programm mit dem Titel "Anthoff liest - Geschichten zur Winterzeit" sekundiert ihm Musiker Erwin Rehling, der mit ungewöhnlichem Percussion-Instrumententarium aufwartet. Schellenbaum, Steinspiel, Kuhglocken, Schlagzeug und Marimba, eine Art Holzxylophon, sind an diesem Abend seine Hilfsmittel. Rehlings Intermezzi zwischen den Texten sind kurz und markant, oft greift er den Spannungsbogen aus dem eben Gelesenen auf, untermalt mal mit verstörenden und beängstigenden Klängen, mal mit traumwandlerischen Melodien. Ein eingespieltes Team sind die beiden, Anthoff und Rehling, Überleitungen und Gequatsche mit den Zuhörern gibt es nicht, ohne große Eingangsworte wird in medias res gegangen.

Elf Texte hat Gerd Anthoff mitgebracht, einen Streifzug durch die weihnachtlichen Gefühle der Moderne. Erich Kästner darf natürlich dabei nicht fehlen, der mit dem Gedicht "Dezember" den Anfang macht - prägnant und unsentimental, erlaubt er sich trotzdem einen Hauch von Wehmut mit Blick auf die Vergänglichkeit. Besonders die Kurzgeschichte "Als ich den Weihnachtsmann zum ersten Mal sah" des in Rumänien geborenen Schriftstellers Hans Bergel hallt nach: Durch die verschneiten Karpaten nimmt an einem Wintertag der Vater seinen Sohn mit auf einen Spaziergang, vorgeblich zur Jagd, aber im Grunde möchte er nur Zeit mit seinem Kind verbringen. Plötzlich bleibt er stehen, rührt sich nicht, atmet nicht. Auch im Publikum ist es mucksmäuschenstill, als der Junge dem Blick seines Vaters folgt und eine riesenhafte, zottlige Gestalt im Waldesdunkel ausmacht. Weiß der Zuhörer schon längst, dass es sich um einen braunen Karpatenbären handelt, ist der Junge so überrascht, dass er freudig seinem Vater zuruft: "Sieh doch, Papa, der Weihnachtsmann!" Der Ausruf des Kindes erschreckt das riesenhafte Tier derart, dass es Reißaus nimmt. Der Vater, kurzzeitig stumm vor Schreck, sagt schließlich: "Ja, mein Sohn, das war der Weihnachtsmann."

Nur wenige Gesten braucht Gerd Anthoff, um das Gesagte zu unterstreichen. Aufgeregten Meisen, sterbenskranken Omas, urigen Nordmännern leiht er in der anderthalbstündigen Lesung seine Stimme, die mal gütig, mal gefährlich klingt, aber stets sehr präsent ist. Einmal erlaubt Anthoff sich einen Ausflug ins Bayerische: Ehrensache eigentlich, "Der Hund" von Oskar Maria Graf in Mundart vorzutragen. Das Publikum dankt es ihm mit glucksendem Lachen und spontanem Applaus.

Und immer wieder der Schnee. Schnee fällt in dem kleinen Dorf, das vergessen hatte, dass Weihnachten war, einem Text des Norwegers Alf Prøysen. Schnee fällt auf den Protagonisten aus der Erzählung "Aus dem nordschwedischen Winter" von Jan Wagner, der einfach den Motor seines Autos abstellt und sich einschneien lässt, um einen schmerzfreien Kältetod zu sterben. Der Schnee, von dem Anthoff berichtet, ist kraftvoll, säubernd, grausam, aber auch barmherzig.

Nicht von ungefähr ist ein Großteil der Geschichten aus Sicht eines Kindes erzählt: Nie war die Weihnachtszeit magischer, der Duft der Tannen intensiver als zu Kindertagen, in die sich der ein oder andere aus dem Publikum bereitwillig von Anthoffs raumgreifendem Vortrag entführen lässt. So birgt der Abend im Zornedinger Martinstadl auch nostalgische Reminiszenzen, ein Wiederaufleben-Lassen vergangener Festlichkeiten und auch ein bisschen Vorfreude auf das anstehende Weihnachten.

Zu kurz kommen an diesem Abend leider die Autorinnen. Nur Selma Meerbaum-Eisinger hat es in diesen Winter-Kanon geschafft mit ihrem Poem "Farben", das Anthoff bedeutsam rezitiert. Umso eindrücklicher wird der Text mit Blick auf die tragische Lebensgeschichte der jüdischen Autorin, die 1942 mit nur 18 Jahren in einem Arbeitslager starb. "Lichter fallen und spielen mit Schatten unendliche Ringelreihen", heißt es dort. Spätestens nach dieser Lektüre ist klar: Winter kann mehr als nur weiß.

© SZ vom 14.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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