Gospel, die gute Nachricht, das Evangelium. Nirgendwo ist das dringender gebraucht als im Dunkel, sprich: in den Abgründen unserer Gefühle. Also genau jenem Ort, in den Dad Horse Ottn in Gedanken hinabsteigt, um mit seinen Liedern das vorhandene Restlicht zu aktivieren. Er wolle "selbst etwas in Brand stecken und etwas Helligkeit in die Keller der Seele bringen", sagte der Musiker zu Beginn seines Konzerts. Das gelingt schon deshalb ganz prächtig, weil seine Stacheldrahtstimme auf eine Art und Weise über die Hörgewohnheiten schleift, dass die Funken sprühen. Während seine Finger den Saiten von Banjo und Mandoline, seine besockten Füße dem Basspedal und seine Lippen dem Kazoo weiteren Zündstoff entlocken.
Der Schrottgalerie in Glonn mag es bei seinem Auftritt am Freitagabend so ergangen sein wie dem alten Haus von Rocky Docky, wartend "jeden Abend aufs neue Morgenrot". Nur dass eben nicht Bruce Low zur Tür hereingekommen ist, sondern ein musizierender Philosoph mit der Ausstrahlung eines Dr. House, dem disharmonischen Ego eines Tom Waits und der kompromisslosen Poesie von The Beautiful South. Wobei im Zusammenwirken etwas entsteht, was nicht die Summe der Bestandteile ergibt, sondern deren Potenz. Keiner der 14 Anwesenden, einschließlich des hingerissenen Gastgebers "Schrotter" Sven Friedl, konnte sich erinnern, je etwas Ähnliches gehört zu haben. Wären 100 dagewesen, hätte es sich genauso verhalten. "Kellergospel" ist an sich schon etwas sehr Seltenes und die "Dad Horse Experience" ist die singuläre Erscheinung darin.
Es wird einem warm ums Herz und hell in der Seele, während Ottn sich zum Erzähler von Geschichten wandelt, denen das Märchenhafte fehlt, die aber überfließen von dem, was die Keller des irdischen Daseins füllt. Er vergleicht diese Erzählungen mit Tätowierungen, "die wir nicht außen an uns dran haben, sondern innen, wo das Leben kleine Geschichten in uns hineinschreibt". So besingt er in "Dead dog on a highway" das schicksalhafte Ende eines müden Wanderns durch das Leben, in "Love is a meatgrinder" erinnert er an die zermürbenden Momente eines zerflossenen Lebensglücks. Oder er sinniert in seiner Version von "Moonshine" über die "Zombie-Inklusionsklasse" von Alkoholopfern. Lakonische Verse mit kargen Worten aus grobem Gestein gemeißelt, aber von einer so tiefgründigen Semantik, dass einem beim Zuhören die Gedanken stehen bleiben, weil der Herzschlag alle Kraft benötigt.
Wo im Folksong die Heiterkeit den Ausgleich zum harten Dasein sucht und im Country-Lied ein melancholisches Dasein seine Melodie findet, da führt Dad Horse Ottn den Blues dorthin, wo er wehtut vor Erkenntnis - aber als "Spiritual" auch durchdrungen ist von Lebenswillen und Hoffnung. Einmal zitiert der Musiker Hank Williams, ein andermal die Carter Family, aber, kein Zweifel: Es spricht viel Autobiografisches aus den Texten und Akkorden, man kann es nur ahnen, so verschlossen gibt sich sein Lebenslauf. Aber allein schon der Song des Pendlers, der den Morgenzug von Kirchweiher nach Bremen herbeisehnt und zugleich zu verfluchen scheint - den kann man nicht erfinden. Genauso wenig wie die trotzig-berührende Ballade "Kingdom it will come" von den ungeboren gestorbenen Kindern, die im Himmel auf der Straße tanzen. Da verkündet einer die Gospel, in dem mehr Glauben, Hoffnung und Liebe steckt als in jeder Kathedrale dieser Welt.
Musikalisch gesehen wird dieser Abend schon deshalb in die Annalen der Schrottgalerie eingehen, weil sich selbst dort noch keiner getraut hat, die Seele des St. Infirmary Blues so auf links zu wenden wie Ottn. Ergreifend vom ersten bis zum letzten Ton, die Freiheiten der Interpretation ausgereizt bis in den letzten Winkel, mit spielerischer Leichtigkeit springend zwischen himmelhoch jauchzenden Höhen und unergründlichen Tiefen. Immer ist es dabei seine gebrochene Kaschemmen-Stimme, mal an ihrer oberen Grenze krächzend, dann im satten Bass raunend, unter deren Kratzern, Dellen und Bruchkanten die instrumentalen Melodien und Rhythmen wie klares Wasser dahinströmen, bis es in einem zeitlupenartiges Ritardando fast erstarrt, bevor es in sattem Groove wieder dahinbraust. Derlei lässt einem beim Zuhören erst das Blut in dem Adern kochen und gleich darauf gefrieren.
Das Licht seiner Musik soll dazu beitragen, "dass wir uns nicht so sinnlos fühlen müssen wie ein Fliegenschiss auf der Windschutzscheibe Gottes", hat Dad Horse Ottn seinen Zuhörern im Lauf des Abends versprochen. Spätestens beim gemeinsamen Blues-Stanzl-Singen zur Melodie von "Lord must fix my soul, turn the shit into gold" hatte er mit seiner Gospel alle erreicht und erleuchtet. Für den freundschaftlich ausgiebigen Applaus gab's zum Abschied einen Händedruck mit auf den Heimweg. Für jeden, von Herzen.