Kino in Grafing:30 Zentimeter zu wenig

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Das einzige Kino im Landkreis Ebersberg, das Grafinger "Capitol", öffnet endlich wieder seine Pforte. Ein rentabler Betrieb ist allerdings nach wie vor nicht möglich. Hauptgrund dafür: Die Sitzreihen stehen zu dicht beieinander

Von Anja Blum

Will man als Grafinger jemandem von Außerhalb erklären, warum man in genau dieser Kleinstadt lebt und nicht woanders, mündet das meist in einer stolzen Aufzählung dessen, was Grafing so alles zu bieten hat. Nicht fehlen darf dabei natürlich das "Capitol", schließlich ist dies das einzige Kino weit und breit. Und dass man zu Fuß zum neuen Blockbuster schlendern kann, das hat das schon was. Die vergangenen 19 Wochen aber musste das Grafinger Publikum auf diesen Luxus verzichten: Das Capitol schloss Mitte März wegen der Corona-Pandemie seine Pforte. An diesem Freitag, 24. Juli, öffnet es endlich wieder - obwohl ein rentabler Betrieb nach wie vor nicht möglich ist.

"Wir machen eben leidenschaftlich Kino", sagt Sandra Scheid auf die Frage nach dem Warum. Und dass sich die Zeit der langen Schließung "fürchterlich angefühlt" habe. Fast scheint es, als könne sie immer noch nicht fassen, was da die vergangenen Monate geschehen ist. "Am Anfang dachte ich, es würde sich halt um zwei, drei Wochen handeln", erzählt die Grafinger Kinobetreiberin, doch dann wurde aus der Situation eine ungeahnte Hängepartie: "Erst bleib uns nichts außer Warten, dann gab es von der Politik praktisch stündlich neue Entscheidungen." Dabei schwingt in dem Bericht Scheids, die das Filmtheater mit ihren Eltern betreibt, auch viel Enttäuschung mit. Die Informationspolitik der Landesregierung sei miserabel gewesen, sagt sie, außerdem sei bald klar geworden, "dass wir komplett hinten runter fallen". Restaurants, Baumärkte, Flugreisen: Vieles sei bei den Debatten um die Corona-Regelungen bedacht worden - nur eben die Kinos nicht. "Dabei dienen wir nicht nur dem Freizeitvergnügen, sondern sind Wirtschaftsunternehmen wie alle anderen auch", sagt Scheid - und zwar in einem "knallharten Geschäft".

Filmliebhaberin Sandra Scheid freut sich, dass sie im Grafinger "Capitol" nun wieder Gäste empfangen kann. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Genau das habe sich gerade in der Pandemie wieder deutlich gezeigt: Die oftmals international agierenden Verleiher hätten bereits reihenweise ihre Filmstarts abgesagt beziehungsweise verschoben, um möglichst nicht wegen geschlossener Märkte auf Profit verzichten zu müssen. Insofern sei es sehr ungünstig, so Scheid, dass die Situation der Kinos in Deutschland nicht einheitlich sei, weil jedes Bundesland seine eigenen Regeln aufstelle. Sprich: Die einen haben zu, die anderen ohne Einschränkungen auf, viele liegen irgendwo dazwischen. "Dadurch wird die Lage für die Verleiher noch unkalkulierbarer, was sie offenbar eher zum Rückzug veranlasst." Den neuen "Bond" zum Beispiel wird es erst im November geben, der Actionthriller "Tenet" von Regisseur Christopher Nolan soll nun am 12. August in die deutschen Kinos kommen - doch Scheid hegt daran noch gewisse Zweifel. "Wir haben den zwar gebucht, aber eine Garantie ist das nicht." Letztendlich, so erklärt es die Grafingerin, seien die Kinobetreiber nun mehr denn je abhängig von den Verleihern. (In deren Verträgen werden zum Beispiel Mindestlaufzeiten und -umsätze festgelegt, die selbst dann gelten, wenn der jeweilige Film vor Ort floppen sollte.)

Seit Mitte Juni dürfen die bayerischen Kinos wieder öffnen, doch die Scheids wollten abwarten, bis zumindest die Maskenpflicht am Platz eindeutig wegfallen würde, was nun der Fall ist. "Davor hieß es, man dürfe sie nur zum Essen und Trinken abnehmen - aber das war mir zu vage. Sollte ich etwa jedem Gast zwei große Tüten Popcorn zum langsamen Verzehr empfehlen?" Jetzt dürfen die Zuschauer am Platz ihre Masken ablegen, zudem sind Veranstaltungen mit bis zu 200 Menschen erlaubt, "doch das bringt mich kein Stück weiter", sagt Scheid. Denn der Mindestabstand von 1,50 Metern muss weiterhin eingehalten werden. Da aber die Stuhlreihen des Capitols nur 1,20 Meter voneinander entfernt sind, werden sie nur sehr lückenhaft besetzt werden können - je nachdem, wie groß die einzelnen Besuchergruppen sind. Normalerweise passen in die beiden Säle 156 beziehungsweise 222 Zuschauer, doch derzeit ist nicht einmal an die Hälfte zu denken. "Der Supergau wären lauter einzelne Gäste", sagt Scheid, die die möglichen Saalbelegungen über das Online-Ticketsystem freilich schon durchgespielt hat.

Besonders am Herzen liegt Sandra Scheid das Liebesdrama "Undine" nach dem gleichnamigen Mythos. (Foto: Piffl Medien)

Hingehen, Karte kaufen, Film genießen: Das wird nun leider wegen all der Auflagen erst einmal nicht möglich sein. Denn neben einer neuen Plastikfront vor der Theke, Abstandshinweisen auf dem Boden und einem Desinfektionsspender müssen eben auch die Platzvergabe und Registrierung den Vorgaben entsprechend ablaufen. Sandra Scheid erklärt: "Die Zuschauer sollten ihre Tickets möglichst online kaufen und den Ausdruck davon dann mit ins Kino bringen. Nur so ist gewährleistet, dass die Abstände im Saal eingehalten werden und die Kontakte im Notfall nachverfolgt werden können." Außerdem würde andernfalls die Schlange an der Kinokasse vermutlich ziemlich lang.

Die gute Nachricht ist: An den Gerüchten von einer Kinoschließung, die immer wieder durch Grafing wabern, ist laut Scheid "absolut nichts dran". Nicht einmal jetzt, wegen Corona, sei die Institution in Gefahr. Das Capitol ist ein echtes Familienunternehmen: Der Großvater hat das Filmtheater 1957 selbst gebaut, Haus und Grund sind im Besitz der Scheids. Enkelin Sandra hat zwar Jura studiert, arbeitet aber nicht als Anwältin, sondern führt mit ihren Eltern Anneliese und Helmut Scheid das Grafinger Lichtspielhaus. Es gibt Projekte für die Zukunft, ein großes, treues Publikum und das Kino ist technisch auf dem neuesten Stand - kein Grund, sich Sorgen zu machen also.

Für Sandra Scheid sind Filme ohnehin viel mehr als reines Freizeitvergnügen: "Kino ist ein Kulturgut!", sagt sie im Brustton der Überzeugung. Kein Wunder, dass sie für die Wiedereröffnung nun unter anderem "Undine" ausgesucht hat, ein Liebesdrama, das sich an dem gleichnamigen Mythos orientiert und derzeit auf Platz eins der Arthouse-Liste steht. Begeistert erzählen kann Scheid auch von vielen bereichernden Abenden mit Regisseuren und anderen Filmschaffenden, Christian Lerch mit "B12" zum Beispiel, von spannenden Diskussionen oder beglückenden Live-Dokumentationen, etwa von Stefan Erdmann aus dem Chiemgau. Auch bei der bayerischen "Schulkinowoche" mit besonderen Filmen und Veranstaltungen für ein junges Publikum ist das Capitol immer gerne dabei. "Die wurde aber heuer leider ersatzlos gestrichen." Ebenfalls Pause haben derzeit die Liveübertragungen aus der Met-Opera in New York, die das Grafinger Lichtspielhaus ebenfalls seit geraumer Zeit bietet. Im September soll es damit weitergehen, da das Opernhaus aber noch bis Ende 2020 geschlossen ist, zunächst mit bereits vergangenen Aufführungen. Dass und wie stark Filmkunst unsere Kultur beeinflusst, verdeutlicht übrigens auch ein Plakat, das Scheid nun im Capitol aufgehängt hat. Darauf steht: "Geöffnet wir haben. Zurück wir sind." Wie schön!

© SZ vom 24.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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