Grafing/München:Die Welt ein Abenteuer

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Fortsetzung erwünscht: Michael Skasa sucht wieder nach Autoren. (Foto: Hartmut Pöstges)

Grafinger Heimatbuch wird im Künstlerhaus vorgestellt

Von Rita Baedeker, Grafing/München

Man muss es einmal offen aussprechen: "Gleich hinter Kirchseeon beginnt die Schönheit!" Münchner wissen ja oftmals nicht, welcher landschaftliche Liebreiz im Osten der Stadt verborgen liegt. Auch über die Nachkriegsgeschichte des kleinen Städtchens Grafing und der Region, von der hier in so schwärmerischem Ton gesprochen wird, ist in München vermutlich wenig bekannt.

Gut also, dass der Kulturkritiker Michael Skasa seine Grafinger Geschichtensammlung "Nix gehabt - und so viel erlebt" nun auch in München, im Künstlerhaus am Lenbachplatz vorgestellt hat. In dem im Jung-Verlag erschienenen Buch erzählen zwei Dutzend Grafinger von Angst, Hunger und Flüchtlingselend, aber auch von einer Kindheit, wie sie sich heute kein Mensch mehr vorstellen kann und wohl auch nicht will. Eine Kindheit ohne Handy, Twitter und Facebook, dafür bunt, frei, gefährlich, rotznasig, barfuß, dreckig. Die anlässlich eines Literaturwettbewerbs ausgewählten Texte von Grafinger Bürgern halten ein Stück Heimatgeschichte fest, die sonst Gefahr liefe, vergessen zu werden. Auch in Grafing.

Wie schon bei der Präsentation des Bandes vergangenen Herbst in Grafing, hat Skasa auch dieses Mal für die Lesung Gisela Schneeberger und Maria Peschek engagiert. Erstmals dabei ist Gerhard Polt. "Ich hab ihn angerufen, und er hat zugesagt", erzählt Skasa und fügt hinzu: "Die allererste Kritik, die über ihn erschienen ist, habe ich geschrieben". Mit Maria Peschek stand Skasa eine Zeitlang gemeinsam auf der Bühne; Gisela Schneeberger wiederum bezeichnet er als Genie der Verwandlung und als Lichtblick seiner einzigen Theaterinszenierung vor langer Zeit in Berlin. . .

In den Lesepausen musizieren die NouWell Cousinen mit Marisa, Mathias und Maria Well sowie Alex Maske witzig-virtuose Stücke und bekommen dafür den lautesten Beifall. Der Festsaal im Künstlerhaus ist voll besetzt. Und auch wer nicht in Grafing aufgewachsen, aber im entsprechenden Alter ist, zeigt sich von manchen Erinnerungen tief berührt. Was auch an den Interpreten liegt. Peschek und Schneeberger beherrschen jede Klangfarbe bairischen Singsangs. Polt konzentriert sich auf feinste sprachliche Akzente; so imitiert er zum Beispiel die Nuancen im Deutsch der Flüchtlinge aus dem Osten.

Die Welt in der Stunde Null ist ein einziges Abenteuer. Man leidet Hunger, kämpft ums Überleben, Handwerksbetriebe beginnen mit dem Wiederaufbau, Flüchtlinge kommen in die Stadt und, schlimmer noch, Evangelische, die man noch bis 1961 in Grafing mit Steinen bewirft. Die Kinder zündeln mit Munition am "Melak" genannten Weiher. Später sind es das erste Eis, der erste Kinobesuch, die erste Autofahrt, die als Vorboten eines Wirtschaftswunders in Erinnerung bleiben.

Doch in den Erzählungen vom Ende des Kriegs wird auch Angst spürbar. Zum Beispiel in dem Text über den 1. Mai 1945, als die Amerikaner einrückten, als das Dröhnen der Panzer Häuser erzittern ließ. Meist verliefen die Begegnungen glimpflich. Die Besatzer brachten Kaugummi, Schokolade und Heftpflaster. Sie haben die Schulspeisung (Corned beef mit Erbsensuppe) eingeführt, erregten bei der darbenden und hungernden Bevölkerung aber auch Empörung, als sie in einer Art Mannschaftssport "mit Brotwecken herumschmissen". Was die Grafinger nicht wussten: Die Wecken waren aus Leder, und das Spiel heißt "American Football".

© SZ vom 28.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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