Friesische Tradition:Willkommen bei Bayerns einzigem Boßelklub

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Kirchseeon hat eine Sportart aus Ostfriesland importiert: Boßeln. Wie das funktioniert - und warum man dafür unbedingt Bier und Bollerwagen braucht.

Von Viktoria Spinrad, Kirchseeon

Als Ursel und Udo Braun an einem windigen Wintertag durch den Wald gingen, hörte sie auf einmal ein Stapfen, dazu Lachen und Klirren. Sie bogen um die Ecke, dort standen 20 Leute mit einem Bollerwagen und warfen Kugeln durch den Forst. Ein Vatertagstrupp im Winter? "Angehalten, ihr beiden", rief einer und drückte dem Paar ein Schnapsstamperl in die Hand. Als Ursel und Udo wieder aus dem Wald kamen, hatten sie fünf Schnäpse intus - und die Visitenkarte des einzigen Boßelvereins Bayerns in der Hand.

Boßeln? Man kann sich den Sport als eine Form des Querfeldeinkegelns vorstellen - nur dass die Kugeln deutlich kleiner sind und man keine Kegel umwirft. Stattdessen versuchen beide Teams abwechselnd, die Kugel weiter zu werfen als die Gegner. Wem das nicht gelingt, der muss nachlegen; Gewinner ist das Team, das weniger Würfe für die Runde gebraucht hat. Beliebtes Accessoire vor allem bei Hobby-Boßlern wie den Kirchseeonern ist der Bollerwagen, gefüllt mit Brotzeit und klappernden Flaschen, mit denen Ursel und ihr Udo sogleich Bekanntschaft machten.

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(Foto: Christian Endt)

Etwas Glück gehört beim Boßeln auf den unebenen Waldwegen auch dazu.

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(Foto: Christian Endt)

Eine tragende Rolle spielt der Helfer, der die Kugeln mittels "Kraber" aus dem Gebüsch fischt.

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(Foto: Christian Endt)

Es geht beim Boßeln darum, die Kugel weiter zu werfen als das gegnerische Team.

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(Foto: Christian Endt)

Geselligkeit steht im Mittelpunkt: Der Bollerwagen ist gefüllt mit Bier zur Stärkung.

Vier Jahre später, August 2018, ein brennend heißer Samstagnachmittag im Ebersberger Forst. 16 Leute stehen vor einem Bollerwagen, Schnapsgläschen baumeln an Schnüren. Einer verstaut den Halsschmuck unterm T-Shirt und nimmt Anlauf. Die Kugel hüpft über den Boden und verschwindet in den Tiefen des Buschs am Wegrand. "Scheiße, Alf!", flucht Ursel. - "Du sollst das Wort nicht immer sagen!", entgegnet Alf. - "Ach was, wir sind doch die Quelle der Ruhe." Udo fischt die Kugel mit einer Art Metallkescher aus dem Gestrüpp. Die Trupp stärkt sich mit Bier aus dem Bollerwagen für den nächsten Zug.

Beim Sommerturnier des Kirchseeoner Boßelclubs wird schnell klar, worauf es hier ankommt: die Geselligkeit. "Wir treffen uns zum Spaß an der Freude", sagt Michael Stengert. Den Gründer des Vereins nennen sie hier nur liebevoll "El Presidente". Der propagiert mitten in Bayern einen Sport, dessen Ruf ihm vorauseilt. Im Sinne von: nüchtern in den Wald hinein, betrunken wieder raus. El Presidente aber betont: "Trinken ist natürlich rein freiwillig, die Gemeinschaft steht im Vordergrund."

Zehn Euro Jahresgebühr - das Ticket zu einem Neuanfang

Amüsierte Blicke von Joggern und Radlern. Dieser Sport macht bei dieser Hitze besonders durstig. Für Ursel Braun ging es aber von Anfang an um mehr. Damals vor vier Jahren war sie von einem kleinen Ort im Saarland nach Kirchseeon gezogen. Dort kannte sie alle, hier kaum jemanden. "Man muss sich irgendwie integrieren", sagt die Frau mit dem frechen Kurzhaarschnitt und den Marienkäfersocken. Doch das ist nicht immer so leicht, "die Mentalität bei uns im Westen ist ja doch etwas anders", sagt sie. Also trat sie mit ihrem Mann dem Klub bei. Zehn Euro Jahresgebühr - das Ticket zu einem Neuanfang.

Der Bollerwagen knirscht über den Kies, ein Flaschenöffner klimpert vor sich hin, der Mülleimer füllt sich langsam mit Kronkorken und leeren Flaschen. Der Wagen kommt zum Stehen. Ein Spieler verstaut das Gläschen, beugt sich nach unten, die Kugel in der Hand, und versucht, "den Weg zu lesen", wie sie hier sagen. Dann prallen Kugeln aufeinander. "Schöööt!", ruft El Presidente - ein eindeutiges Signal: Der Inhalt einer Flasche Marajuca-Schnaps wandert in die Stamperl-Gläser, alle stoßen mit einem Prost an.

Aller feucht-fröhlichen Stimmung zum Trotz: Der Verein hat ein Problem. Er hat zwar 60 aktive Mitglieder - aber keine Gegner. Dabei gäbe es einige hier, die den Sport gerne weiter in den Fokus rücken würden, und gegen die Super-Boßler im Norden und Westen der Republik antreten würden. "Doch gegen wen sollen wir in Bayern trainieren?", fragt El Presidente. Aber immer gen Norden fahren? Keine Option. So bleibt die Hauptsache: die Geselligkeit.

Selbstverständlich ist das alles nicht - gerade in Bayern nicht. Es war schließlich ein Zufall, der den Sport aus dem Norden in das Münchner Umland brachte. El Presidente und seine Frau kannten den Sport von einem Bremer, der seine Geburtstage vorzugsweise verboßelte. Als dieser wegzog, entschied sich El Presidente dafür, selbst einen Verein mit Jahresgebühr zu gründen. Auch weil die Kugeln um die 50 Euro das Stück kosten - und gerne einmal im Gebüsch verschwinden.

Die sieben Gründungsmitglieder waren leicht gefunden: Sie saßen im Wirtshaus mit am Tisch. Blieben noch die Formalitäten. El Presidente studierte die Satzungen anderer Vereine. Und so ward der erste und einzige Boßelverein Bayerns geboren.

Zurück im Wald schnappt sich einer das Handtuch vom Bollerwagen mit dem nun gut gefüllten Eimer und reibt den Lehm von der Kugel. "Dieser Weg - wird kein leichter sein", singt Ursel und schwingt die Hüften, bevor ihr Teamkollege zum Jahrhundertwurf ansetzt. Das Boßeln und das Drumherum aus Ausflügen, Eisstockschießen, Trödelmarkt haben etwas gemacht mit der Saarländerin, seit sie nach Bayern gekommen ist und nach Anschluss suchte. Heute, wenn sie einkaufen geht in Kirchseeon, trifft sie die Angela oder den Michael vom Boßelclub. "Dann weiß ich: Du bist Teil des Orts, du gehörst irgendwie dazu." Und das, sagt sie, sei ein schönes Gefühl.

© SZ vom 08.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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