Geheimer Ort in Ebersberg:Eine Reliquie, die Tausende Pilger anzog

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Eines der bekanntesten Kunstwerke aus der Kirche St. Sebastian: das Reliquiar mit der Hirnschale des Heiligen. (Foto: Christian Endt)

Die Sebastiani-Kapelle in Ebersberg ist nur sehr selten für die Öffentlichkeit zugänglich. Ein Besuch in der Gruft.

Von Michaela Pelz, Ebersberg

Die Ankündigung klingt vielversprechend: ein geheimer Ort in Ebersberg. Zu sehen gebe es dort eine Büste aus getriebenem Silber. Nur? Nein, denn unter dem Hut des blondgelockten Mannes mit dem wissenden, fast ein wenig spöttischen Blick befindet sich etwas ganz Besonderes. Zunächst allerdings gilt es, ein wenig in die Geschichte der Kreisstadt und ihres Klosters einzutauchen. Denn es gibt viel zu erfahren über dieses seit 823 unter wechselnder Ägide stehende geistliche Zentrum, dem Augustiner, Benediktiner, Jesuiten und Malteser jeweils ihren Stempel aufdrückten. Und doch bieten die vielen ganz unterschiedlichen Elemente und Stile heute ein höchst harmonisches Bild - von den romanischen und gotischen Teilen bis hin zur Innenausstattung aus Barock und Rokoko.

931 beschließen die Augustiner, aus Ebersberg einen Wallfahrtsort zu machen

70 000. So viele Pilger strömten während der Hochphase jährlich nach Ebersberg. Sie alle lockte dasselbe Ziel wie jene acht Frauen und Männer, die sich an diesem heißen Tag vor Sankt Sebastian versammelt haben: die Hirnschale des Namenspatrons der Kirche, die dort seit dem Jahr 931 verehrt wird. Damals hatten die Augustinerchorherren beschlossen, aus Ebersberg einen Wallfahrtsort zu machen. Die dafür benötigte Reliquie erhielt Probst Hunfried in Rom von Papst Stephan. Um dieses Kleinod und weitere Besonderheiten des Gotteshauses soll es nun bei einer Führung gehen.

Kundig begleitet von Mesner Isidor Persdorfer sowie Stadtführer Robert Bauer macht sich der Besuchertrupp auf den Weg ins Obergeschoss des Gotteshauses. Bis dorthin sind jedoch zunächst allerlei verschlossene Türen zu überwinden: erst das Gitter, durch das man schon das Kirchenschiff in seiner ganzen Pracht auf sich wirken lassen kann. Nach einem Schlenker durch die Sakristei geht es über eine Holzstiege mit 24 etwas schiefen Stufen zum, wie Persdorfer sagt, "wertvollsten Raum". Die Sebastiani-Kapelle.

Kirchenführer Robert Bauer und Messner Isidor Persdorfer zeigen die wunderschöne Barockkapelle. (Foto: Christian Endt)

Deren mächtige Tür ist aus Stahl, und das Schlüsselloch alles andere als leicht zu finden. Noch schwieriger wäre das Öffnen, gäbe es den komplizierten Sicherheitsmechanismus noch, den sich die Türbauer vor rund 500 Jahren ausgedacht hatten: Nur wer die genaue Stelle einer beweglichen Niete kannte, konnte früher den Schlüssel drehen. "Leider ist das kaputt, seitdem ich hier angefangen habe - und das ist schon 29 Jahre her", bedauert Persdorfer.

Mesner Isidor Persdorfer demonstriert den Mechanismus der rund 500 Jahre alten Stahltüre vor der Sebastiani-Kapelle. (Foto: Christian Endt)

Doch auch ohne den Mechanismus made by Mittelalter gibt es genug zu bestaunen in dieser Herzkammer der Kirche. Der lichtdurchflutete Raum mit den zahlreichen Gemälden und den üppigen Stuckdecken war von den Mönchen einst als Bibliothek und Schreibstube genutzt worden. Nach 1945 durften die zahlreichen evangelischen Kriegsflüchtlinge, die noch keine Kirche hatten, dort sonntags parallel zur Heiligen Messe ihren Gottesdienst abhalten. Heute werden in der Kapelle nur noch selten Andachten gefeiert.

Obwohl von unzähligen Pfeilen durchbohrt, starb Sebastian nicht - so die Legende. (Foto: Christian Endt)

Bevor nun zum Vorschein kommt, worauf alle sehnlichst warten, nämlich die Hirnschale, erzählt Persdorfer anhand der Wandbilder lebendig vom Leben und tragischen Ende des Namensgebers der Kirche. Dieser Sebastian aus dem dritten Jahrhundert gehörte zur Leibgarde von Kaiser Diokletian, der berüchtigt war für sein unnachgiebige Christenverfolgung. Nicht einmal vor seinem Offizier machte er Halt: Da Sebastian sich nicht von seinem Glauben abwenden wollte, ließ der Kaiser ihn an einen Baum binden und mit zahllosen Pfeilen beschießen.

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Sebastian wurde später zum Schutzpatron gegen die Pest

Allerdings starb der Legionär nicht, sondern wurde von der später heiliggesprochenen Irene gesundgepflegt. Und anstatt die Stadt sofort zu verlassen, versuchte Sebastian, den Kaiser zu bekehren. Das erzürnte diesen so sehr, dass er befahl, seinen früheren Leibwächter zu erschlagen und die Leiche in der Kloake zu entsorgen. Trotzdem konnten die sterblichen Überreste des Märtyrers geborgen und in den Katakomben beigesetzt werden. Von dort aus wurden die Gebeine später in eine der Hauptkirchen Roms gebracht. Im Mittelalter dann avancierte der Heilige Sebastian zum Schutzpatron gegen die Pest. Kein Wunder also, dass so viele den Wunsch hatten, ihm nahezukommen.

Die im Fürstenhut verborgene Hirnschale kam im Jahr 931 nach Ebersberg, ihr Behältnis stammt aus der Mitte des 15. Jahrhunderts. Die Gesichtszüge sind einem Herzog nachempfunden. (Foto: Christian Endt)

Als sich Persdorfer zur Rückseite des Raums begibt, wo die Reliquie aufbewahrt wird, steigt die Spannung. Dabei ist die Hirnschale zwar der kostbarste, aber längst nicht einzige Schatz hier, denn auch die anderen Schränke sind voll mit Preziosen. Einst waren es sogar noch deutlich mehr. Man erzählt sich, dass 1799 die Aufforderung an alle Konvente erging, ihre Besitztümer nach München zum Magistrat zu schicken. Auch die Ebersberger Klosterbrüder fügten sich dem Geheiß - doch von den auf den Weg gebrachten 14 Kisten erreichten nur 13 ihr Ziel. Die letzte soll laut Chronik irgendwo auf dem Klostergelände versteckt worden sein. Eingemauert von einem mit verbundenen Augen dorthin geführten Handwerker. Bis heute ist die Kiste verschollen.

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Doch auch ohne den Inhalt der ominösen Nummer 14 gibt es in der Kapelle allerhand zu bestaunen. Neben einer gotischen Anna-Selbdritt-Figur finden sich weitere Heiligen-Darstellungen aus unterschiedlichen Epochen, etwa aus der Schule des bekannten Rokoko-Vertreters Ignaz Günther.

Viele Kostbarkeiten befinden sich in den Schränken der Kapelle. Einige der Figuren sind aus der Schule von Ignaz Günther. (Foto: Christian Endt)

Alles wunderschön und sehenswert, doch nichts gegen den Moment, in dem Persdorfer das kostbare, spätgotische Büstenreliquiar aus dem verschlossenen Glasschrank hinter dem marmornen Altar nimmt. "So hat Sebastian aber nicht wirklich ausgeschaut", erklärt der Mesner. Die feinen Gesichtszüge des in der Mitte des 15. Jahrhundert geschaffenen Standbilds seien einem Herzog nachempfunden. Den selbstbewussten Blick aber würde man wohl auch jemandem zutrauen, der sich ungeachtet schrecklicher Konsequenzen nicht von seinem Glauben abbringen ließ. Vielleicht ist es diese Unerschütterlichkeit, die Sebastians Verehrung begründet? Oder doch die Legende, dass er dem Tod zunächst noch einmal von der Schippe springen konnte?

Durch diese Öffnung konnte man den Knochen der Hirnschale mit Daumen oder Zeigefinger berühren. (Foto: Christian Endt)

Für die mittelalterlichen Pilger muss es jedenfalls ein erhebender Moment gewesen sein, wenn die mit Glassteinen, dem damaligen Äquivalent zu Diamanten, besetzte Kopfbedeckung abgenommen wurde. Zwei Öffnungen besitzt sie: eine aus Glas für einen Blick auf den Inhalt. Durch die zweite lässt sich die Reliquie ohne jede Barriere sogar mit einem Finger berühren.

Erst wurde direkt aus der Hirnschale getrunken, später benutzte man geweihte Röhrchen

Und damit nicht genug: Dreht man das Ganze um, wird die Innenwölbung zur Schale. Ursprünglich wurde der Messwein direkt aus dem Objekt getrunken, erkennbar an der Mundöffnung. Später konnte man den Kelch dank seines Standfußes auf dem Altar platzieren, wo die Pilger das "Blut Christi" aus silbernen Röhrenhalmen aufsaugten. Dafür gab es, neben den hygienischen, ganz praktische Gründe: Es ließen sich einfach deutlich mehr Menschen gleichzeitig abfertigen.

Das Cranium, dessen Echtheit 1925 durch eine offizielle Untersuchung der Universität München bestätigt wurde, ganz ohne Fassung zu bewundern, ist heute leider nicht möglich. Zu fragil und empfindlich ist es aufgrund seines hohen Alters. Blanke Knochen werden die Teilnehmer der Kirchenführung später dennoch zu Gesicht bekommen.

Zunächst aber berichtet Robert Bauer viel Interessantes über die Kirche, erzählt von einem großen Brand, den ein "verrückter Klosterbruder" 1305 verursacht habe, und von einem zweiten Feuer Ende des 18. Jahrhunderts, bei dem das Deckengewölbe einstürzte und sogar die Glocken schmolzen. Dann erläutert er die Mirakelbilder, das Malteserwappen sowie die beeindruckenden Reliefs von Abt Häfele und dem Geschlecht der Pienzenauer in der Herz-Jesu-Kapelle, denen man mehr Sichtbarkeit wünschen würde.

Zusammen mit anderen Buben hat Robert Bauer diese bei der Renovierung des Kirchenfußbodens in den Sechzigerjahren gefundenen Knochen in Eimern in die Gruft getragen. (Foto: Michaela Pelz/oh)

Noch viel spannender allerdings sind die persönlichen Anekdoten, die Bauer auf Lager hat, vor allem jene Geschichte, die das zweite Highlight des Kirchenbesuches einleitet: In den Sechzigern beobachten der kleine Robert und anderen Buben gebannt, wie bei einer Renovierung unter dem Kirchenboden Knochen von dort bestatteten Mönchen gefunden werden. "Nehmt euch jeder einen Eimer von da hinten", habe dann der rund 80-jährige Mesner die Kinder geheißen. Sie sollten die freigelegten Gebeine einsammeln und zur Gruft tragen.

In die darf man dann schließlich selbst hineinklettern, nachdem Bauer das schwere Gitter im linken Seitenschiff angehoben hat. Rückwärts geht es runter, denn am Einstieg ist maximal ein Meter zwischen Decke und Treppe Platz.

Kirchenführer Robert Bauer macht es vor: Am Einstieg muss man sich gewaltig ducken - zwischen Treppe und Decke ist nicht mehr als 100 Zentimeter Platz. (Foto: Michaela Pelz/oh)

Unten in der Gruft fällt der Blick auf zahlreiche Hohlräume mit Knochen und Schädeln darin. Der Totenkopf mit einem besonders großen Loch soll von Pater Blasius stammen, einem einfachen Mönch, der von den Schweden gefoltert worden war, bevor ihn jemand mit einem Schwerthieb erlöste. Und längst sind noch nicht alle Schächte geöffnet.

Die Schweden sollen für das Loch im Schädel von Pater Blasius verantwortlich sein. (Foto: Michaela Pelz/oh)

Nicht zu vergessen: das prächtige Stifterhochgrab aus Rotmarmor am Kircheneingang. Dort ist bei genauem Hinsehen noch die Stelle zu erkennen, wo in den Siebzigern der Kopf des Jesuskinds wieder angeklebt wurde. Diebe hatten ihn und andere Teile entwendet, dann alles in die Isar geworfen, wo Taucher - nach einem Geständnis - die Beute zum Glück fanden. Und auch alles rund um die eindrucksvolle Kirchentüre mit ihren gotischen Beschlägen und romanischen Asylringen gibt es Spannendes zu erfahren: Erst wenn man die Ringe mit der Hand umfasste, durfte man um den Schutz der Mutter Kirche vor Verfolgung bitten.

Der kleine rote Pfeil gehörte ursprünglich der Großmutter von Stadtführer Robert Bauer. Wer ein solchen Souvenir im Geldbeutel hat, so die Legende, ist finanziell abgesichert. (Foto: Christian Endt)

Doch nicht nur viel Wissen, auch ein Souvenir nehmen die Kirchenbesucher mit nach Hause, genau wie die früheren Wallfahrer: einen kleinen Pfeil. Mit diesem Symbol der Sebastians-Bruderschaft konnten damals Mägde und Knechte gegenüber ihrem Dienstherrn belegen, die ihnen gewährten freien Tage tatsächlich für eine Pilgerreise nach Ebersberg genutzt zu haben. Heute sagt man, die von einem Zinngießer vom Ammersee gefertigten Pfeile sorgten dafür, dass der Geldbeutel nicht leer würde, gäbe man sie dort hinein. Auch nicht schlecht.

Am Sonntag, 17. Juli, um 14 Uhr gibt es eine Kirchenführung (ohne Sebastiani-Kapelle, aber mit Gruft), für die keine Anmeldung benötigt wird. Wer sich für die Kapelle interessiert, erhält Auskunft im Pfarrbüro oder bei Stadtführer Thomas Warg.

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