Gesellschaftlicher Diskurs:Kritische Selbstreflexion der Kirchen

Lesezeit: 5 min

In Ebersberg demonstrierten kürzlich mehr als 2000 Menschen für Demokratie und Vielfalt. Die beiden Pfarreien der Kreisstadt gehörten zu den Mitveranstaltern. (Foto: Christian Endt)

Beim "Ökumenetalk" in Ebersberg sprechen die evangelische Dekanin und der katholische Dekan über das komplexe Verhältnis von Demokratie und Religion. Über Ideale, Widerstände und Blasen.

Von Anja Blum, Ebersberg

Fest steht: Es findet jede Menge "Resonanz" statt an diesem Abend, beim Ebersberger "Ökumenetalk" mit der evangelischen Dekanin Dagmar Häfner-Becker und dem katholischen Dekan Josef Riedel im evangelischen Gemeindehaus. Die zentrale Frage lautet: Braucht Demokratie Religion? Sie nimmt Bezug auf eine der steilen Thesen des bekannten Soziologen Hartmut Rosa, die an diesem Abend diskutiert werden sollen.

Gut 30 Menschen sind gekommen, fast alle haben graue Haare, die Atmosphäre ist fast familiär. "Martin, komm rein", ruft der Hausherr, Pfarrer Edzard Everts, einem Verspäteten entgegen. Und die Wertschätzung ist beileibe keine Einbahnstraße: Die Gäste lauschen dem Gespräch aufmerksam, sind sehr gut vorbereitet, haben sich teils sogar eingelesen in die Materie, stellen wohldurchdachte Fragen und bringen sich konstruktiv ein. Und genau das ist es, was Hartmut Rosa als Resonanz bezeichnet.

Beim "Ökumenetalk" mit Dekanin Dagmar Häfner-Becker und Dekan Josef Riedel geht es um Demokratie und Religion. Es moderiert Andrea Splitt-Fischer vom Kreisbildungswerk (links). (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Der Jenaer Soziologieprofessor versucht, gesellschaftliche Phänomene aus einem grundlegenden menschlichen Streben nach "resonanten" Beziehungen zu erklären. Er entlehnt den Begriff der Physik, um Personen zu beschreiben, die sich gegenseitig beeinflussen, indem sie einander zuhören und ihre Gedanken und Gefühle äußern. Auf diese Weise kann, soll, laut Rosa, durch gelungene Begegnung eine Art Transformation stattfinden. Allerdings, darauf weist Moderatorin Andrea Splitt-Fischer vom Kreisbildungswerk in ihrer Einführung hin, denkt der Soziologe diese Resonanz als punktuelles, momenthaftes Gelingen. Resonanz in diesem Sinne sei überdies dadurch charakterisiert, dass sie nicht willentlich hergestellt werden könne, sondern letztlich "unverfügbar" sei.

Das Bild der Gesellschaft, das Splitt-Fischer im Sinne Rosas skizziert, ist düster. Der technische Fortschritt führe keineswegs zu mehr Lebensqualität, sondern zu einer verheerenden Steigerungslogik und permanenten Beschleunigung. Von einer "rasenden Gesellschaft" ist die Rede, der langsam, aber sicher der Sinn abhandenkomme, und die geprägt sei von einem "Aggressionsverhältnis zur Welt". So aber könne Demokratie nicht funktionieren, denn für deren Entscheidungsprozesse brauche es eben viele Momente der Resonanz - in Rosas Worten "ein hörendes Herz".

Wie können die Kirchen Resonanz fördern? Die Dekanin und der Dekan geben sich bescheiden und selbstkritisch

Die evangelische Dekanin und der katholische Dekan sind sich zunächst einig, dass Resonanz durchaus stattfinde. Sie werde immer wieder und von vielem berührt, sagt Häfner-Becker, und Riedel berichtet von seiner persönlichen Erfahrung als Prediger. "Plötzlich entsteht da manchmal so eine besondere Atmosphäre, da weiß man: Jetzt sind alle da." Doch er nehme auch eine so gefährliche wie traurige Entwicklung wahr, nämlich, dass viele Impulse negative, aggressive Reaktionen hervorriefen. "Gerade in der Politik ist das leider nicht zu übersehen." Natürlich seien in einer Demokratie auch mal harte Debatten nötig, sagt Häfner-Becker, "aber wenn sich die Positionen gar nicht mehr bewegen, hört die Resonanz auf". Leider würden viele Menschen lieber Wände einziehen, als sich von etwas berühren zu lassen.

Doch nicht um die Politik, sondern um die Kirchen soll es an dem Abend in erster Linie gehen. Wie können diese die Resonanz fördern, dafür Räume bereitstellen? Bei dieser Frage geben sich die Dekanin und der Dekan bescheiden und selbstkritisch. Die Kirchen seien genauso viel beziehungsweise wenig hörend wie andere Organisationen, sagt Häfner-Becker, und ihr katholischer Kollege gesteht, dass es vielen schwerfalle, zuzuhören und sich infrage stellen zu lassen. "Wir sind ja auch nur Menschen." Zumindest theoretisch sei das mit der Resonanz zwar allen klar, so Häfner-Becker, aber in der Praxis sehe es leider oft schwierig aus. "Wenn sie in der Bahn einem seltsamen Typen begegnen, haben auch Christen den Reflex, schnell das Weite zu suchen."

Newsletter abonnieren
:einfach leben!-Newsletter

Jeden Montag in der Früh: nützliche Tipps für den Alltag und gute Ideen für ein besseres Leben. Kostenlos anmelden.

Doch der Unterschied sei, "dass wir wissen um unsere Fehlbarkeit", so die Dekanin. Entsprechend versuche die evangelische Kirche, transparente Strukturen zu schaffen, sodass jedes Anliegen irgendwo Gehör finde. Beide Geistliche betonen, für eine Öffnung der Kirchen zu stehen. Dass man herauswolle aus der jeweiligen Blase, den Austausch gestalten, und die Menschen ohne Vorbehalte einladen. Als praktisches Beispiel nennt Riedel einen Verein, der um einen Pfarrer für einen Gottesdienst am Jubiläumswochenende gebeten habe - ausgerechnet an Fronleichnam. "Die hätte ich wegschicken können, weil sie sonst ja auch nix mit uns am Hut haben, aber das wäre das falsche Signal gewesen. Also haben wir gemeinsam nach einer Lösung gesucht, und sie auch gefunden."

Gesellschaftlich seien die Kirchen lediglich "ein Player von vielen", man wolle auf Augenhöhe mit den anderen kommunizieren, ohne besserwisserisch zu sein, sagt Riedel, und seine Kollegin ergänzt: "Auch andere Einstellungen als richtig und wahr anzuerkennen, die eigene Religion nicht absolut zu setzen, ist Voraussetzung für Resonanz." Ein schönes Beispiel dafür sei jüngst die Demonstration gegen Rechtsextremismus in Ebersberg gewesen, sagt Everts, bei der sowohl die beiden Landtagsabgeordneten von CSU und SPD als auch die beiden Pfarrer der Kreisstadt gemeinsam auf der Bühne standen. "Zwei Minderheiten in enger Verbundenheit", sagt Everts und lacht.

Die Fallhöhe sei bei den Kirchen besonders groß wegen des eigenen moralischen Anspruchs

Das heikle Thema des sexuellen Missbrauchs in beiden Kirchen spricht Riedel an. "Da dürfen wir nicht die Spur des Leugnens oder Vertuschens mehr an den Tag legen, sonst finden wir keine hörenden Herzen mehr." Zumal die Fallhöhe im Falle der Kirchen besonders groß sei, wegen des eigenen moralischen Anspruchs. "Sich diesem Dilemma zu stellen, ist aktuell die größte Herausforderung."

Nicht ganz einfach ist auch Splitt-Fischers Frage nach der demokratischen Idee des mündigen Bürgers einerseits - und den engen Grenzen der Kirchen andererseits. Ja, da gebe es "einen Gap zwischen gefordert und gelebt", gesteht Häfner-Becker, außerdem sei das Thema mit viel Widerstand, Furcht und Sprachlosigkeit verbunden. Ihr Kollege Riedel wiederum spricht von "massiven hierarchischen Strukturen spätestens seit dem 19. Jahrhundert" und sagt, dass es eine schwierige, aber wichtige Aufgabe sei, diese Fesseln zu sprengen.

Was also kann Religion beitragen zu einer demokratischen Gesellschaft? Demokratie, sagt Riedel, sei ja stets eine gemeinsame Suche nach der besten Lösung und daher immer etwas Bewegtes, nichts Absolutes. In dieser sich ständig verändernden Welt aber könne Kirche beziehungsweise Glaube die nötige Verlässlichkeit, Halt und Heimat bieten.

SZ PlusZum Welt-Alzheimertag am 21. September
:"Der Gesunde muss lernen, nicht der Kranke"

Die vergangenen Jahre von Hans Dieter Strack waren geprägt durch die Demenz-Erkrankung seiner Frau Annelene Mirow-Strack, ehe sie im vergangenen Jahr gestorben ist. Wie hat der 84-jährige ehemalige Dekan diese Zeit erlebt? Ein Interview.

Interview : Johanna Feckl

Überhaupt wird viel über Angst und das allumfassende Streben nach Sicherheit gesprochen. Ziel unserer Gesellschaft sei, alles verfügbar zu machen, konstatiert Gast Hans Dieter Strack, Dekan im Ruhestand, deswegen sei die Unverfügbarkeit der Resonanz für viele ein so unerhörter Gedanke. Oft fehle es an Grundvertrauen, um Dinge aus der Hand zu geben, sagt auch Riedel. Doch hier sehen die Kirchenvertreter eine ihrer Stärken: Gott sei eine dritte Dimension, in der die Unverfügbarkeit zum Ausdruck komme. Außerdem sei Gott selbst immer in Resonanz, schon allein wegen seiner Dreifaltigkeit.

Letztlich ist dieser Ökumenetalk ein komplexer, spannender Abend - aber irgendwie selbst eine Wohlfühl-Blase mit geringem Potenzial zur Transformation. Das scheint auch so manchem Anwesenden bewusst zu sein. Hartmut Rosas Thesen müssten dringend hinaus in die politische Öffentlichkeit, die geprägt sei von einem Hauen und Stechen, anstatt von christlichen Werten, sagt Strack. Und eine Zuhörerin fordert die Kirchen auf, rauszugehen, vor die Haustür, an die Ränder der Gesellschaft. Denn gerade in sozialen Belangen gebe es genügend existenzielle Themen, von Flucht bis Bildung. "Außerdem finde ich es sehr schade, dass sich bei Aiwanger alle weggeduckt haben. Da hätte ich mir wirklich ein klares Wort zu Mäßigung und Respekt gewünscht."

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ Plus70 Jahre Stadterhebung
:Per Strickleiter in die Steinzeit

Ebersberg feiert sich selbst, mit einem selbst geschriebenen Theaterstück. "Am Brunnen tief im Wald" bietet viel Humor, prominente Gesichter und eine Reise weit in die Vergangenheit der Kreisstadt.

Von Anja Blum

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: