Vom Exil nach Ebersberg:Krippenspiel verpflichtet

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Der Schriftsteller Rudolf Borchardt, wie ihn sein Sohn Cornelius in Erinnerung hat: mit einem Croissant in Italien. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Cornelius Borchardt aus Rinding ist das letzte lebende Kind des Schriftstellers Rudolf Borchardt. Der 94-Jährige bemüht sich, dessen literarisches Erbe lebendig zu halten. Dazu dient ihm, neben seinen Erinnerungen an die NS-Zeit, ein weihnachtliches Stück.

Von Anja Blum, Ebersberg

Die Königskrone liegt schon bereit, auf einem Kästchen neben der Wohnzimmertür. Aus Pappkarton ausgeschnitten, mit Goldpapier umwickelt, ein schlichtes Ding. Und doch hat es großen Wert, zumindest für Cornelius Borchardt. Der 94-jährige Ebersberger nämlich schlüpft mit dieser selbstgebastelten Krone in seine Paraderolle. Wenn er sie aufsetzt, verwandelt er sich in einen der Heiligen Drei Könige. Jedoch nicht in irgendeinem beliebigen "Krippenspiel", sondern in jenem, das sein Vater, der Schriftsteller Rudolf Borchardt, im Jahr 1920 schrieb.

Bücher über Bücher gibt es im Wohnzimmer von Cornelius Borchardt. Besonders gerne aber hat der 94-Jährige das "Krippenspiel" seines Vaters. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

An diesem Adventswochenende hätte das Stück aufgeführt werden sollen. Spielleiter Cornelius Borchardt hatte schon alles geplant. In dem kleinen Weiler Rinding sollten Maria und Josef die Hirten und Könige empfangen. Doch das weihnachtliche Wunder muss warten, wie so vieles, wegen der Pandemie. Auch wenn "Corona" in Borchardts Ohren nicht sonderlich gefährlich klingt - seine verstorbene Schwester trug diesen Namen - hat er die Aufführung längst abgeblasen. Doch Groll hegt er deswegen keinen. "Der Mensch ist eben schwierig, unvernünftig", sagt der 94-Jährige und lächelt milde. Außerdem sei aufgeschoben ja nicht aufgehoben: "Ich will auf jeden Fall hundert werden", sagt er, "also habe ich noch genügend Zeit fürs Krippenspiel." Genauso wie für Tennis, Lyrikkreis und den Tafelspitz, den er an diesem Vormittag nebenbei selbst zubereitet.

Eine literarische Preziose

Genau 101 Jahre ist es her, dass Rudolf Borchardt die Geburt Jesu in Szene setzte, in einer einzigen Dezembernacht schrieb er sein "Krippenspiel" - sozusagen eine Auftragsarbeit. Eine Gräfin, die auf Schloss Neubeuern im Inntal einen erlesen-künstlerischen Freundeskreis bewirtete, hatte den Dichter darum gebeten, die Kinder des Hauses sollten es aufführen. "Rudi, ohne das Krippenspiel kommst du mir nicht mehr aus", soll sie zu ihrem Gast gesagt und ihn samt Essen und Wein in die Bibliothek verfrachtet haben. Am nächsten Morgen fand man ihn schlafend auf dem Sofa. Die Flasche war leer - aber das kleine weihnachtliche Werk fertig.

"Das Krippenspiel" von Rudolf Borchardt in einer alten und einer nun erschienenen Neuauflage. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Cornelius Borchardt ist das vierte Kind des Autors, ihn gab es damals noch nicht. Seine Mutter war im Advent 1920 zum ersten Mal schwanger. Einer der Gründe, warum die Literaturwissenschaftlerin Gunilla Eschenbach in Rudolf Borchardts Krippenspiel starke autobiografische Bezüge vermutet: Josef sei hier "wie gelähmt durch die Furcht, die elementaren Bedürfnisse seiner Familie nach Schutz, Wärme und Pflege nicht befriedigen zu können", schreibt sie in ihrem Nachwort zu einer Neuauflage des Stücks von 2019, erschienen im Claudius Verlag: Die Sorge des Vaters spiegle die eigenen Ängste des Autors wider. Die dominante, weil selbstbewusste und mutige Figur in diesem Spiel ist Maria. Sie "hat den höchsten Redeanteil und setzt sich in der Vielfalt der Stimmen letztlich durch". Doch der werdende Vater lässt seinen Josef eine Entwicklung durchmachen: Am Ende legt er seine Selbstzweifel ab, nimmt die Rolle als Ernährer und Beschützer an. Die Kraft dafür erwächst ihm aus der Konfrontation mit dem dritten König. Dessen Umkehr - vom reichen, überheblichen Zweifler zum demütigen Verehrer des göttlichen Kindes - setzt Rudolf Borchardt gekonnt dramatisch in Szene. Deswegen erfordere diese Rolle einen geübten Spieler, urteilt Eschenbach.

Cornelius Borchardt durfte das Krippenspiel schon als Kind in Bremen mit der Familie aufführen, er hat jenen Part des dritten Königs für sich auserkoren. An einem kleinen Tischchen in seinem Wohnzimmer sitzt der alte Herr an diesem Vormittag, in Hemd und Jackett, umgeben von nicht enden wollenden Bücherregalen, und beginnt zu rezitieren. "Nehmt, was ich hab, und mich dazu / Und wer nicht betet, wie ich tu, / Der soll's mit mir zu schaffen kriegen. / Hier unterliegen heiß ich siegen, / Und hier sein Gold verloren han, / Heißt werden erst ein reicher Mann." Die Augen des 94-Jährigen leuchten.

Die neue Auflage des weihnachtlichen Laienspiels ist illustriert mit hübschen Scherenschnitten. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Mit diesen Worten endet Borchardts "Krippenspiel", eine literarische Preziose zwischen Tradition und Moderne, zwischen mittelalterlichem Mysterienspiel und psychologisierender Figurencharakteristik. Spannend ist, wie diese Darstellung das weihnachtliche Geschehen auf das Notwendigste beschränkt. Es gibt weder eine Herbergssuche noch die Verkündigung vor den Hirten. Ort der Handlung ist allein der Stall. Dieses Krippenspiel reduziert die Handlung auf einen formstrengen, schlichten Kern - und ist trotzdem von großer Tiefe.

Das bewegte Leben des Erben

Dem jüngsten und letzten lebenden Sohn Rudolf Borchardts ist es ein Herzensanliegen, das Erbe seines Vaters - den er oft als "der Borchardt" bezeichnet, so groß und abstrakt ist offenbar die Dichterfigur - zu bewahren. Allerdings war dafür nicht immer viel Zeit. 1928 in Bremen geboren, trat Borchardt junior nach dem Zweiten Weltkrieg eine kaufmännische Lehre in der dortigen Baumwollbörse an, seinen volkswirtschaftlichen Abschluss machte er in Dallas. Danach verschlug es ihn nach Brasilien und schließlich nach München, zu Siemens. 1975 zog Cornelius Borchardt mit seiner Frau Brigitte von Schwabing aufs Land nach Rinding, wo das Ehepaar eine alte Schmiede zum Wohnhaus umbaute. "Da war mal der Heuschober, da der Hühnerstall. , sagt er und deutet umher. Heute gibt's in dem gemütlichen Wohnzimmer einen schwarzen Kater auf dem Sofa, einen sensationellen Blick ins Grüne und einen fantastisch knarzenden Holzboden. Und seit Cornelius Borchardt in Rente ist, hat er um einiges mehr Zeit für die Pflege seines literarischen Erbes, nicht nur in Form einer weihnachtlichen Aufführung. Nach dem Tod der Mutter übernahm er die weitere Herausgabe der Werke des Vaters in der Rudolf-Borchardt-Gesellschaft. Außerdem hat er nun seine Erinnerungen an eine keineswegs alltägliche Kindheit in einem Büchlein zusammengetragen: Unter dem Titel "Borchardts letzte Villa" bietet der Sohn einen authentischen Einblick in die Situation vieler Exilanten im Dritten Reich.

Das Büchlein "Borchardts letzte Villa" beinhaltet diverse Privatfotos aus der Zeit in der Toskana von 1931 bis 1942. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Eine Villa als Exil

Dazu muss man wissen: Schriftsteller Rudolf Borchardt, geboren 1877 in Königsberg, nahm sich selbst als Protestant wahr, war aber gemäß den nationalsozialistischen Rassegesetzen jüdischer Abstammung, weshalb es ihm geboten schien, das Land zu verlassen. Italien wurde zu seiner Zuflucht. Sein Vater habe das Land, seine Sprache und Kultur geliebt, erzählt Cornelius Borchardt, er habe geforscht und übersetzt. In seinem autobiografischen Büchlein, erschienen 2020 im Novum Verlag, beschreibt der Sohn die Zeit von 1931 bis 1942, elf Jahre, die die Familie in der toskanischen "Villa Bernardini" gelebt hat - ein "Paradies" mit großen, kunstvoll ausgestalteten Zimmern und einem weitläufigen Park. Dank diesem Garten und diversen Nutztieren konnten sich die Borchardts dort weitgehend selbst versorgen, die Miete bestritt man mit Hilfe der Bremer Familie mütterlicherseits und gutmeinenden Freunden. Außerdem logierten reihenweise "zahlende Gäste" aus Deutschland in der Villa, was half, über die Runden zu kommen. Denn auf Honorare konnte Rudolf Borchardt schon bald nicht mehr zählen. Seine letzte Veröffentlichung zu Lebzeiten, 1938 ein Buch über die Stadt Pisa, kam nur dank des Einsatzes seiner Frau zustande. Sie schrieb einen offenbar sehr bewegenden Brief an Herausgeber Martin Bodmer.

Cornelius Borchardt als Bub. Ein großes, schmuckes Bassin diente den Kindern damals als Pool. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Cornelius Borchardt erinnert sich gerne an jene Jahre. Zur Villa gehörten ein großes Bassin, in dem die Kinder nach Herzenslust schwammen, und diverse alte Bäume, in die sie "Häuser" aus Holz bauten. Doch nicht nur der Nachwuchs genoss die Freiheit und Unbekümmertheit, die das Anwesen trotz aller schwierigen politischen wie persönlichen Umstände ermöglichte, sondern auch Schriftsteller Borchardt. "Ich denke, es waren seine glücklichsten Jahre", sagt der Sohn. Es sei dem Vater dabei aber nicht um Luxus gegangen, sondern um einen "so kultiviert wie naturnahen Wohnstil". Die toskanische Villa sei ihm ein seelischer Ausgleich für den als tragisch empfundenen Verlust der Heimat gewesen.

Durchaus prunkvoll waren die Gemächer, in denen die Familie Borchardt in der Toskana lebte. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Dichter, Gärtner, Vater, Lehrer

In "Borchardts letzte Villa" kommt der Leser dem Schriftsteller ziemlich nahe, die Erinnerungen des Sohnes zeichnen ein sehr persönliches Bild. Man lernt den Vater kennen als Frühaufsteher und Arbeitstier, als dramatisches Talent und als Feinschmecker, der auch gerne mal ein Steak zum Frühstück verzehrt hat. Außerdem war der Dichter ein begeisterter Bergsteiger und "leidenschaftlicher Gärtner", so heißt denn auch ein Buch, das postum veröffentlicht wurde. Gerade deshalb habe Borchardt die Villa Bernardini so geliebt, weil er in ihrem Park seiner Liebe zu den Blumen und allen anderen Pflanzen habe frönen können, schreibt der Sohn.

Zur Villa Bernardini gehört ein riesiger Park, inklusive Venus-Brunnen und Zitronenbäumchen. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Doch wie war die persönliche Beziehung des Sohnes zu seinem Vater? Zu einem Mann, der in manchen Quellen als nicht eben sympathischer Zeitgenosse beschrieben wird? Sondern als Patriot, als radikaler, elitärer Konservativer. Hochbegabt, hochgebildet, ein geachteter Dichter und bewunderter Vortragsredner. Sein Deutsch, schrieb der Schriftsteller Martin Mosebach , sei "die höchste Steigerung eines wilhelminisch-akademischen Prunkdeutsch, eines Deutsch, das zu prasseln und zu schäumen, zu donnern und zu hallen versteht, das schier unendlich in seinen Perioden dahinrollen kann, von jener Art virtuoser Eitelkeit, die den Hörer und Leser entzückt, wie wenn ein Pfauenrad sich entfaltet". Der Sohn wiederum sagt, er liebe vor allem die Lyrik des Vaters, die zwar oft als unzugänglich beschrieben werde, ihn selbst jedoch tief berühre. "Vielleicht liegt es an den Genen? Oder daran, dass ich schon in frühen Jahren entsprechend beeinflusst wurde?"

Konservativ, elitär, hochgebildet und hochbegabt: Der Schriftsteller Rudolf Borchardt in einer zeitgenössischen Darstellung. (Foto: Ullstein/picture-alliance / dpa)

Für den Sohn war der Dichter vor allem ein "liebevoller Vater", der sogar Arbeitszeit "geopfert" habe, um den Kindern, die in der Toskana zweisprachig aufwuchsen, Bildung angedeihen zu lassen. Weil die Familie unter dem Radar leben musste, wurden die beiden Jüngeren nicht zur Schule geschickt, sondern daheim von Vater und Mutter unterrichtet. In Latein und Griechisch, Deutsch, Geografie und Rechnen. Aber auch Englisch und Französisch standen auf dem Stundenplan, sowie Geschichte und Geschichten wie die Feldzüge Alexanders des Großen, denen der Borchardtsche Nachwuchs andächtig lauschte. "Es war unseren Eltern sehr wichtig, dass wir was lernen", sagt Cornelius Borchardt, aber richtiggehend streng sei der Vater nicht gewesen. "Wenn wir nicht gespurt haben, ist er allenfalls etwas nervös geworden." Immer wieder habe Rudolf Borchardt seine Kinder auch mit Dichtung in Berührung gebracht - und wenn jemand bezweifle, dass ein junger Mensch damit etwas anzufangen wüsste, so könne er das Gegenteil bezeugen, so der 94-Jährige. Eine tiefe Wirkung habe Lyrik auf das kindliche Gemüt. Es "empfindet die innere Wahrheit, die in einem wahren Gedicht lebt, vielleicht noch reiner, noch unmittelbarer" als ein Erwachsener, schreibt Cornelius Borchardt. "Denn in einem Kind ist die reine, unverbildete Menschheit als moralische Vorlage vorgezeichnet, wie sie in Wirklichkeit sein sollte."

Zu den Lieblingsgedichten Cornelius Borchardts gehören jene Verse, die seiner Mutter Marie Luise, genannt Marel, in Liebe gewidmet sind - auch der Sohn spricht ja nur in höchsten Tönen von seiner Mutter. "Was man will, kann man nicht geben, / Und man gibt nur, was man muss. / Also gibt man einen Kuss / Und man gäbe gern das Leben. (...)/ Drängt den Ring an einen Finger / Schlingt die Kette um den Hals, - /Alles nur ein wie geringer / Abschlag auf die Schuld des Alls! (...)"

Mutter Marel und ihre vier Kinder. Heute lebt nur noch der jüngste Sohn, Cornelius Borchardt. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Die Vertreibung aus dem Paradies

1944, als Cornelius 14 Jahre alt ist und der Vater 65, wird die Familie aus ihrem toskanischen Paradies vertrieben. Der Eigentümer verkauft die Villa, Rudolf Borchardt ist in großer Not, die der Sohn in seinem Büchlein eindrücklich schildert. Nach ein, zwei Zwischenstationen in Italien wird die Familie von deutschen Truppen aufgegriffen, es soll für sie "heim gehen ins Reich". Fluchtversuch, Festnahme, es sind nervenaufreibende Wochen. Tatsächlich endet der Rücktransport bereits in Innsbruck. Hier wird Cornelius Borchardt gemustert, er muss noch einen Monat in einer Flakeinheit dienen. Grundsätzlich aber wird die Familie mit Essensmarken und Papieren ausgestattet und in die Freiheit entlassen. Am 10. Januar 1945 stirbt Rudolf Borchardt in Tirol an Herzversagen. Sein literarisches Werk, in Kisten eingelagert, wird später aus Italien an die Witwe in Deutschland geschickt. Diesem höchst vielfältiges Oeuvre gerecht zu werden, sagt Cornelius Borchardt, sei "eine nie enden wollende, aber sehr schöne Geschichte".

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