International Jazz Day in Grafing:"Versuchen Sie erst gar nicht, es zu verstehen"

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Das "Charles Mingus Ensemble" hatte sich zum International Jazz Day eine besonders anspruchsvolle Aufgabe gewählt - für "The Black Saint and The Sinner Lady" existierten nicht einmal Noten. (Foto: Christian Endt)

Das "Charles Mingus Ensemble" unter Martin Zenker bringt mit "The Black Saint and The Sinner Lady" ein komplexes Opus auf die Bühne. Das Ensemble verschmilzt das Flair von Mingus' Original mit sprühender Kreativität der Jetztzeit.

Von Oliver Fraenzke, Grafing

Nein, der Titel soll nicht auf einen Verriss hindeuten, sondern er umspannte als Motto den Samstagabend in der Stadtbücherei Grafing mit dem von Martin Zenker geleiteten Charles Mingus Ensemble. Dargeboten wurde ausschließlich Musik des Namensgebers, dessen Musik oftmals als unbequem beschrieben wurde, als sperrig und widerspenstig. So konstatierte der Bandleader, man solle gar nicht erst versuchen, sie zu verstehen, denn wie auch im Falle von beispielsweise Mozart oder Bach könne eh niemand diese Genies völlig durchleuchten - und Musik solle ja nicht dazu da sein, sie zu verstehen, eher wolle sie Emotionen auslösen und uns bewegen. Am 22. April wäre Mingus 100 Jahre alt geworden und auch Jazz Grafing feierte im April Geburtstag, am Konzerttag fand darüber hinaus der von der Unesco initiierte International Jazz Day statt: drei Gründe für dieses Konzert.

Die Noten mussten nach der Originalaufnahme transkribiert werden

Im Zentrum des Gigs stand Mingus' Magnus Opus "The Black Saint and The Sinner Lady", jene legendäre Aufnahme, über die er sagte: "Forget all my other records". Noten zu dieser viersätzigen Suite wurden nie herausgegeben, sie mussten für Aufführungen mit dem Ensemble nach der Originalaufnahme von 1963 transkribiert und teils neu arrangiert werden. The Black Saint and The Sinner Lady ist ein symphonisch angelegtes Werk, in dem immer wieder durchkomponierte Passagen aufscheinen, welche die ansonsten freie Reise durch die querstehenden Klangwelten strukturieren.

Bezeichnend sind die dichten, bewusst schrill-dissonanten Bläsersätze und die an Intensität kaum übertreffbaren Steigerungen mit kontinuierlichen Accellerandi, welche auch in Grafing vor allem im zweiten Satz den Hörern förmlich den Boden unter den Füßen wegzogen und in Trance verfallen ließen. Nach dem Kopfsatz gab es in der bis zum letzten Platz ausverkauften Stadtbücherei Grafing noch vor allem einen Achtungsapplaus, im zweiten Satz taute das Publikum auf, wurde warm mit der Musik, groovte und eiferte fiebrig mit.

Die elfköpfige Band aus Studierenden der Hochschule für Musik und Theater München hatte sich sichtlich eingehend mit dieser Musik auseinandergesetzt und verschmolz das Flair von Mingus' Original mit sprühender Kreativität der Jetztzeit.

Den Gitarristen hört man leider nur, wenn die Bläser schweigen

Dem Eindruck des Abends nach ließe sich das Ensemble in drei Gruppen kategorisieren, die eben durch ihren verschiedenen Ansatz Kontraste und lebendiges Dialogisieren ermöglichten: Aus der letzten Reihe befeuerten Vincent Rein am Bass und Nathan Carruthers an den Drums die Band durch ihr energiegeladenes Spiel, optisch unterstrichen durch tanz- bis tranceartige Bewegungen, akustisch durch das feinfühlige wie parallel impulsive Spiel. Rein führte sangliche Linien, überließ dem Bass niemals reine Begleitfunktion und verschaffte der Band Volumen aus der Tiefe; Carruthers hörte in jeden noch so scheinbar beiläufigen Klang hinein und stimmte ihn auf die Band ab, wog nicht nur die Rhythmen, sondern auch das ganz konkrete Klangereignis im Bezug auf die abspielende Musik ab.

Sachlicheren optischen Eindruck machte die Sektion aus Klavier und Gitarre, die aber nicht weniger bedacht war auf vollen, vielschichtigen Klang. Simon Harscheidt an der Gitarre hörte man leider nur selten, nämlich dann, wenn die Bläser schwiegen. In dieser Zeit jedoch überzeugte er durch mehrstimmiges, rhythmisch präzises Musizieren und das feine Spiel mit unterschiedlichen Stilen. Marina Schlagintweit war ständig am Hören und Aufnehmen, um sogleich auf das Erlebte musikalisch reagieren zu können; dass das Klavier über weite Strecken nur Füllfunktion besitzt, hielt sie nicht auf, selbst diese Passagen minutiös auszugestalten und so blitzten immer wieder wohl durchdachte Piano-Fills zwischen den Bläsersätzen auf. In den weiten Solopassagen bemühte sie sich nicht um Zurschaustellung im Rampenlicht, sondern verzauberte durch angenehme Zurückhaltung.

In der zweiten Hälfte folgen andere Hits aus der Feder Mingus'

Die sieben Bläser zu sondieren, fällt angesichts der dichten Schreibweise von Mingus schwer, da sie eindeutige Einheit bildeten. Otgonbaatar Amgalanbaatar bestach durch wilde Altsaxophon-Soli, die stets unprätentiös blieben und scherzhaft vor allem die Schlusswirkung raubten, so selbst den letzten Ton der etwa 45-minütigen Suite The Black Saint and The Sinner Lady abrupt ins Nichts auflösten. Nico Siebeck spornte nicht nur am Tenorsaxophon und der Flöte, sondern auch durch kecke Ansagen Publikum und Band an, Khasar Ganbaatar am Basssaxophon machte sich wiederkehrende Motive zunutze, damit für die Band Form zu schaffen. Zwischen herb wild und schwelgerisch zart dialogisierten die Trompeter Nico Weber und Lukas Tutert. Michael Haas meisterte virtuos, dabei sauber intoniert die Posaune und Fabian Graf füllte den Bläsersatz aus der Tiefe mit der Tuba, mischte sich dabei formidabel mit den klangtechnisch naturgegeben härteren anderen Bläsern.

In der zweiten Hälfte wurde eine Vielzahl weiterer Hits aus der Feder Charles Mingus' dargeboten, teils mit ganzer, teils mit ausgedünnter Band - eine überraschende Gesangsnummer steuerte Enji Erkhem gefühlvoll und mit bewundernswerter Intonation aller Blue Notes bei. Nur las Martin Zenker das allmählich ermüdende Publikum falsch, als er nach zweieinhalb Stunden, statt die Setlist zu verdichten, noch über eine halbe Stunde plus Zugabe weiterspielen ließ. Dies kam der Gesamtwirkung des Abends nicht entgegen, da die doch teils ähnlich gestrickten Formen und Bläsersätze an dieser Stelle ausgereizt waren, am Ende wenig Kuriosität weckten. Fit blieben allerdings die elf Studierenden auf der Bühne, die vom ersten bis zum letzten Ton alles gaben und ihr Können sowie ihre lebendige, aufbegehrende Kreativität glühend unter Beweis stellten.

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