Dachau:"Für ukrainische Menschen wird es ein schmerzhaftes Weihnachten"

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Kaplan Augustin Atamanyuk in der Pfarrei Mariä Himmelfahrt predigt jeden Sonntagnachmittag auch auf Ukrainisch. (Foto: Niels P. Jørgensen)

In der Pfarrei Mariä Himmelfahrt ist heuer zwei Mal Heiligabend: Der ukrainische Kaplan Augustin Atamanyuk feiert dort an diesem Wochenende mit seinen Landsleuten das Weihnachtsfest. Dazu gehört für ihn eine Süßspeise mit Mohn, aber auch eine schwere Melancholie.

Von Jessica Schober, Dachau

Wenn Augustin Atamanyuk am kommenden Sonntag Weihnachten feiert, wird ein Großteil der Dachauer seine Christbäume schon entsorgt haben. Doch für die Ukrainerinnen und Ukrainer, die dem byzantinischen Ritus folgen, kommt das traditionelle Weihnachtsfest erst jetzt. Am 7. Januar feiert Atamanyuk die Heilige Messe zu Christi Geburt. "Ich bin in Weihnachtsstimmung", sagt er und lächelt zaghaft. Er steht im Pfarrhaus neben der Kirche Maria Himmelfahrt zwischen Garderobenständern, auf denen die Umhänge der Sternsinger hängen. "Für ukrainische Menschen wird es ein schmerzhaftes Weihnachten", sagt der Kaplan.

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Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat sich vieles verändert im Leben des ukrainischen Geistlichen, der 2007 aus Lemberg nach Deutschland kam. In den Anfangstagen des Krieges schlief er kaum, orderte Nachtsichtgeräte und koordinierte Hilfssendungen. Inzwischen beschafft er noch ab und zu Stromgeneratoren. Die Horrormeldungen aus seiner Heimat sind Alltag geworden. Doch Atamanyuk sagt: "Ich kann mich nicht an den Krieg gewöhnen." Von Priesterkollegen, die an die ukrainische Ostfront reisten, bekommt er Fotos und Nachrichten mit Wünschen, was dringend benötigt wird - vor allem Decken im kalten Winter.

Ein befreundeter Priester habe seine neugebaute Kirche im Süden der Ukraine nicht einmal einweihen können, nun diene sie als Lagerstätte und Kochplatz. "Die Kinder kommen in diese Kirche, weil es da etwas Warmes zu essen gibt", erzählt Atamanyuk.

In der Sowjetzeit waren viele Ukrainer Atheisten

Seitdem auch im Landkreis Dachau mehr als 1000 Menschen aus der Ukraine Zuflucht gefunden haben, bietet der Kaplan ihnen geistigen Beistand und Seelsorge an. Jeden Sonntag um 14 Uhr hält er - nachdem er am Vormittag die zwei regulären Gottesdienste seiner Gemeinde gefeiert hat - einen Gottesdienst in ukrainischer Sprache ab. Bis zu 50 Menschen kommen regelmäßig, manche hätten in ihrem Heimatland ihren Glauben früher ganz anders gelebt.

Eine Frau habe ihn einmal schüchtern gefragt, ob sie in dieser Kirche auch beten dürfe, erzählt der Kaplan. In der Sowjetzeit seien viele seiner Landsleute atheistisch aufgewachsen, das neu erwachte religiöse Leben sei stark von den jeweiligen Priesterpersönlichkeiten am jeweiligen Ort geprägt gewesen.

Überhaupt gibt es viele Fragen in der Diaspora der ukrainischen Gläubigen: "Was soll ich tun, wenn ich zu einem deutschen Weihnachtsessen eingeladen wurde, obwohl da eigentlich noch Fastenzeit ist?" Der Kaplan antwortet dann, dass solche Einladungen natürlich angenommen werden können, solange es keine wilde Party ist. In der Zeit vor Weihnachten gilt für die Orthodoxen ein strenges Fastengebot. Auch am Vorweihnachtsabend, dem 6. Januar, kommt nur fleischlose Kost auf den Tisch.

Für das Essen ist im Pfarrhaus heuer Atamanyuks Mutter zuständig. Sie hat es nach einer schwierigen Flucht mit 75 Jahren zu ihrem Sohn nach Dachau geschafft. Atamanyuks Schwägerin und ihr Sohn sind inzwischen in Röhrmoos untergekommen. Der Kaplan erinnert sich mit Grauen an die Tage, in denen er um seine Mutter bangte. "So etwas will ich nie wieder erleben."

Gefüllte Teigtaschen zum Weihnachtsfest

Nun kocht seine Mutter im Obergeschoss des Pfarrhauses getrocknete Pilze. Für das ukrainische Weihnachtsfest bereitet sie Teigtaschen mit Füllungen vor, genauso wie die traditionelle Rote-Beete-Suppe Borschtsch oder eine Süßspeise namens Kutja aus gekochtem Buchweizen, gemahlenem Mohn, Rosinen, Erdnüssen und Honig. "Kutja muss sein", sagt der Priester.

Normalerweise gibt es zwölf Speisen in der Vorweihnachtsnacht, doch der Kaplan sagt: "Ich weiß nicht, wer das alles kochen und essen soll." Das Weihnachtsessen wird der Kaplan mit seiner Mutter, seiner Schwägerin, dem Neffen und ein oder zwei Theologiestudenten aus München feiern, "es soll ja keiner allein bleiben."

Zu einem traditionellen ukrainischen Weihnachtsessen am 6. Januar gehört für Atamanyuk unbedingt die Süßspeise Kutja aus Buchweizen, Nüssen, Honig und Mohn. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Der Priester ist froh, dass seine Mutter hier ist. Doch von seiner Schwester, die ihren Mann und die Söhne nicht im Land zurücklassen wollte, hört er immer wieder vom Leben im Krieg. Er erreicht sie selten, da nur vier Stunden am Tag Strom zur Verfügung steht - zu wenig zum Kochen und Handy-Aufladen.

"Erst vorgestern gab es wieder Explosionen in unserem Heimatlandkreis in der Nähe von Dnipro", hat er von seiner Schwester erfahren, die Fenster hätten vibriert. Als seine 75-jährige Mutter zuletzt mit Atamanyuks Bruder telefonierte, fragte sie: "Warum schreit deine Frau so laut?" Da schlugen gerade wieder Raketen ein.

In Dachau gibt es manche, denen die ständigen Nachrichten aus dem Krieg zu bedrückend seien, erzählt der Priester. In seinen Predigten spricht er nicht mehr regelmäßig darüber. "Diese Betrübnis und Traurigkeit muss sich nicht auf die deutsche Bevölkerung übertragen. Die Leute haben ja ein Recht auf ihr Glück. Aber für mich ist einfach nichts mehr, wie es früher war."

"Russische Soldaten sind Mörder, das ist eindeutig"

Nach wie vor spürt er viel Mitgefühl bei den Gläubigen, aber "die Leute schauen jetzt auch sehr auf ihre eigenen Ressourcen". Bloß beim Neujahrsgottesdienst, als es um Frieden ging, sei er wieder auf den Krieg in seiner Heimat zu sprechen gekommen. "Frieden kann nur sein, wenn es keine Bedrohung mehr gibt", sagt er, "Sonst muss man leider zur Waffe greifen." Der Kaplan verschränkt die Arme, wenn er von der Gewalt gegen Zivilisten spricht. "Russische Soldaten sind Mörder, das ist eindeutig", sagt er. "Ich mag mir gar nicht vorstellen, was in den okkupierten Gebieten los ist."

In den Seelsorgegesprächen tauche zunehmend das Thema Rache auf, erzählt er. "Eine Frau beichtete, dass sie die Russen hasse. Da habe ich ihr gesagt: Man muss aufpassen, dass der Hass nicht die eigene Seele auffrisst. Man muss die Russen nicht lieben, aber es ist gefährlich, wenn die Aggressionen einen beherrschen."

Er versucht, den Menschen im Exil ein Anker zu sein. Die schlimmste Zeit für ukrainische Gläubige sei im vergangenen Jahr kurz vor Ostern gewesen, als viele nicht wussten, wo sie das Hochfest feiern können. Atamanyuk ging zum Landratsamt und verteilte Handzettel, auf denen er seinen Gottesdienst ankündigte. Er gab sie seinen Landsleute, die in einer langen Schlange warteten.

Das Angebot wurde angenommen, auch wenn manches anders ist als gewohnt. In ukrainischen Kirchen gibt es beispielsweise keine Bänke, erzählt der Priester, lediglich für Hochbetagte gebe es Sitzgelegenheiten am Rande. "Hier dürfen sich die Leute natürlich hinsetzen", sagt Atamanyuk.

Frohe Weihnachten - wie soll das jetzt gehen?

"Weihnachten ist für viele dieses Jahr schmerzhaft, weil sie es nicht mit der Familie zusammen feiern können." Es sei schwierig, Freude zu empfinden, wenn man wisse, dass anderswo Menschen sterben. "Wir fragen uns ständig, wie die Zukunft unseres Landes aussehen soll. Das ist in Afghanistan und Syrien wahrscheinlich ähnlich." Wenn er höre, wie Menschen sich "Frohe Weihnachten" wünschten, denke er manchmal: "Die Botschaft ist schon richtig, aber wie soll ich mich freuen?" Dabei hat Atamanyuk es nicht eilig, die Weihnachtszeit hinter sich zu bringen. "Für Gläubige Christen geht die Weihnachtszeit offiziell bis Lichtmess am 2. Februar."

Als einer der seit 15 Jahren in Deutschland lebt, ist der Ukrainer auch ein Integrationslotse für viele Neuangekommene. "Ich tröste viele, die länger als sie dachten hier in Deutschland bleiben müssen, und sage ihnen: Eure Aufgabe ist es, euch hier um eure Kinder zu kümmern. Sie sollen Deutsch lernen und sich integrieren, damit sie eines Tages die Zukunft der Ukraine aufbauen können."

Drei ukrainische Kinder hat Atamanyuk im vergangenen Jahr in Dachau getauft. Das freut ihn, anderes verstört ihn. "Ich bin manchmal entsetzt über die Anspruchshaltung mancher meiner Landsleute, wenn sie zum Beispiel nicht so schnell eine Wohnung hier finden können."

Er weiß auch von Ukrainern, die zu früh zurückgekehrt sind in Städte wie Saporischschja oder Charkiw. Dort hocken sie nun in unbeheizten Plattenbauten im Dunkeln, die Kinder schlafen voll bekleidet wegen der Kälte.

Der Krieg hat viele traumatisiert

"Der Krieg ist noch nicht zu Ende, es fliegen noch immer Raketen und Drohnen", sagt Atamanyuk. Das merke er auch im Dachauer Alltag. "Die Böllerei an Silvester war für einige schrecklich", erzählt Atamanyuk. Einige Mütter hätten von weinenden Kindern berichtete, die sich vor den Knallgeräuschen fürchteten.

Doch jetzt kommen erst mal die jungen Sternsinger zum Mittagessen ins Pfarrhaus. Gestern waren sie schon da und haben mit ihren Winterstiefeln im Garten gespielt, deshalb hat Atamanyuk heute ein rotes Tuch ausgerollt, um den hellen Teppich zu schonen. Vielleicht aus Reinlichkeit, aber vielleicht auch, weil er jenen, die herkommen, gerne einen roten Teppich ausrollt.

Atamyanuk hält auch Totenmessen für Gefallene. Die Angehörigen schreiben manchmal die Namen der Gestorbenen auf Zettel, die am Ende des Gottesdienstes vorgelesen werden. Am 24. Februar wird er das wieder tun, dem ersten Jahrestag des Beginns der russischen Invasion. Es sei ein traumatischen Datum für viele, der Tag habe sich für immer in den Kalender eingebrannt, sagt der Kaplan. Doch vorher will er erst mal Weihnachten feiern.

Warum feiern die Ukrainer erst am 7. Januar Weihnachten?

Die Mehrheit der Ukrainer sind Orthodoxe und Katholiken - also Christen, die Weihnachten wie in Deutschland üblich ab dem 24. Dezember feiern würden. Eigentlich. Doch in der Ukraine gibt es unterschiedliche Kalender. In der Westukraine gilt der gregorianische Kalender, in der Ostukraine der julianische Kalender, an den sich Anhänger der orthodoxen und der griechisch-katholischen Kirche halten. Der Unterschied zwischen diesen Kalendern beträgt 13 Tage. So kommt es dazu, dass es in einem Land zwei unterschiedliche Termine für das Weihnachtsfest gibt. Nach einem offiziellen Beschluss der Werchowna Rada, des ukrainischen Parlaments, feiert die Ukraine seit 2017 das Weihnachtsfest zweimal.

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