SZ-Adventskalender:Ausflug in die Welt

Lesezeit: 3 min

Der Besuch eines Kinos oder eines Museums fördert die Selbständigkeit von Menschen mit Behinderung. Die meisten brauchen anfangs eine Begleitung, doch dafür fehlt ihnen das Geld. Der SZ-Adventskalender hilft

Von Petra Schafflik, Dachau

Frisches Tannengrün, dazu Lärchen- und Efeuzweige, Schleifen und Kerzen liegen auf dem Tisch bereit. Andrea ( Name geändert) mag kreative Arbeit, jetzt wickelt sie Zweig um Zweig, steckt hier und dort noch Kirschlorbeer dekorativ dazwischen, bald ist ein schmuckvolles Gesteck fertig. "Und morgen gehe ich zum Kegeln, das macht mir auch richtig Spaß", erzählt die junge, unternehmungslustige Frau, die in einer betreuten Wohngruppe lebt. Im Alltag kommt die 28-Jährige gut zurecht, doch ganz ohne Unterstützung geht es noch nicht. "Mir fehlt manchmal ein bisschen die Struktur, oder ich verliere den Überblick, da brauche ich jemanden, der mir Hinweise gibt", erzählt sie ganz offen und lacht dabei.

Andrea ist vielseitig interessiert. Gerne würde sie außerhalb der organisierten Freizeitangebote für Behinderte hin und wieder eigenständig etwas unternehmen. Ideen hätte sie: "Mal alleine nach München in ein Museum oder ins Kino", sagt sie. Das würde ihr gefallen. Aber auf sich gestellt losziehen, das schafft sie noch nicht. "In einer ungewohnten Umgebung brauche ich Unterstützung." Eine sogenannte Freizeitassistenz, die sie begleiten könnte auf ihrem Weg hinaus in die Welt, kann sich die junge Frau nicht leisten. Leider. Das ist ihr größter Wunsch. Und ganz ernst sagt Andrea: "Das wäre mein Traum - einfach mal alleine etwas machen können."

Jetzt wieder als Dossier

1 / 1
(Foto: SZ)

Mehr als 150 Millionen Euro hat der Adventskalender für gute Werke der Süddeutschen Zeitung in 70 Jahren eingenommen. Ein digitales, nun wieder auf den neuesten Stand gebrachtes Dossier blickt zurück. Es erklärt, wie das Hilfswerk funktioniert und bündelt berührende Geschichten aus München und dem Umland. Verfügbar im Digitalkiosk oder unter: sz.de/sz-adventskalender

Der Alltag von Andrea beginnt wochentags mit frühem Weckerläuten. Dann macht sie sich rasch fertig und auf den Weg zur Arbeit. In einer Kinderkrippe ist sie für die Hauswirtschaft zuständig, kümmert sich ums Geschirr, hilft bei den Mahlzeiten. "Dort arbeite ich Vollzeit", erzählt sie. Der Job gefällt ihr, "auch wenn es manchmal anstrengend ist, je nachdem, wie die Kinder gerade drauf sind."

Weil sie nicht ganz alleine zurechtkommt, lebt Andrea in einer betreuten Wohngruppe. Die junge Frau kennt es kaum anders, schon seit ihrer Kindheit wohnte sie zunächst im Heim, bevor sie dann in die Wohngruppe wechselte, die ihr mehr Selbständigkeit ermöglicht. Trotzdem ging sie lange Zeit Kontakten zu anderen Menschen eher aus dem Weg. Dann aber wagte sie sich doch einmal in die Frauengruppe, die sich wöchentlich trifft. Organisiert wird dieser Treff von "Pfiff", einer Einrichtung, die als Tochterunternehmen des Franziskuswerks Schönbrunn Freizeit- und Bildungsangebote für Menschen mit und ohne Behinderung entwickelt.

"Wir kochen, gehen ins Theater, basteln Geschenke und sprechen darüber, wie es uns geht", erzählt Andrea. Sobald ein neues Programm erscheint, "lese ich alles durch und entscheide spontan." Immer muss sie dabei aber ihren Geldbeutel im Auge behalten. Da Andrea in der Wohngruppe lebt, verfügt sie nicht über ihr Gehalt, sondern nur über ein kleines persönliches Budget. Dieser Betrag muss für alle persönlichen Ausgaben reichen - "Friseur, Kleidung oder Kino".

So wie Andrea geht es vielen behinderten Menschen. Wer stationär oder in einer betreuten Wohngruppe lebt, dem bleibt trotz Job nur wenig Geld. "Die Leute reden nicht darüber, dass sie sparen müssen und sich Freizeitangebote nicht leisten können", sagt Heike Nixdorf. Die Heilerziehungspflegerin organisiert bei "Pfiff" ein Programm, das sich mit sportlichen, geselligen und kulturellen Angeboten an Kinder, Jugendliche und Erwachsene richtet. Gerade Ausflüge oder Wochenendfahrten oder auch die beliebte Talent-Akademie in den Ferien, zu der sich Mädchen und Buben mit und ohne Handicap anmelden, sind jedoch nur mit Spendengeldern möglich.

Inklusion mit Erwachsenen, ein Ziel dem sich "Pfiff" von Anfang an verschrieben hat, erweise sich zudem als schwierig - von beiden Seiten, sagt Heike Nixdorf. Denn auch viele Männer und Frauen mit Handicap hätten Berührungsängste, "fühlen sich oft wohler in der Gemeinschaft behinderter Menschen." Andrea ist da anders. Auch die Freizeitaktivitäten haben ihr im Laufe der Zeit mehr und mehr Selbstbewusstsein gegeben. Das sie auch braucht, um ihren Alltag eigenständig zu managen. Dennoch bleiben da Beschäftigungen und Aktivitäten, die sie gerne zumindest einmal ausprobieren würde. Doch dafür würde sie am Anfang jedenfalls die unterstützende Begleitung einer Freizeitassistenz brauchen.

Freizeitassistenten sind kein Luxus, wie die Expertin Heike Nixdorf betont. Vielmehr böten sie Entlastung für Familien mit behinderten Kindern, die dringend hin und wieder eine Auszeit benötigen würden. Tatsächlich leisten Freizeitassistenten einen wichtigen Beitrag zur Selbständigkeit. Jugendliche mit Behinderung können sich mit dieser Unterstützung langsam von der Familie abnabeln und ihre eigene Welt erobern.

Wer zu Hause lebt, kann diese Leistung über die sogenannte Verhinderungspflege mit der Kasse abrechnen. Doch junge Menschen oder auch Erwachsene, die in einer betreuten Wohngruppe leben, haben dafür kein Geld. Sie müssen diese Hilfe aus eigener Tasche bezahlen, was ihre geringes Budget meist überschreitet. Freizeitassistetenten sind zwar oft Ehrenamtliche, doch eine Aufwandsentschädigung benötigen sie schon. Der SZ-Adventskalender hilft deshalb der Initiative "Pfiff", damit Andrea und andere Menschen mit Behinderung einen Platz in der Welt, der ihnen wie jedem zusteht, finden können.

© SZ vom 21.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: