Gedenken an Reichspogromnacht:Erinnerungsarbeit mit Polierwolle

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Schüler des Ignaz-Taschner-Gymnasiums pflegen Stolpersteine, die an die vertriebenen Juden Dachaus erinnern. (Foto: Toni Heigl)

15 Stolpersteine aus Messing erinnern in der Stadt Dachau an die Schicksale von vertriebenen und ermordeten Juden. Damit die Erinnerung nicht verblasst, bringen Schüler sie jetzt wieder auf Hochglanz.

Von Martin Wollenhaupt, Dachau

Die Stolpersteine von Melitta und Max Wallach sind kühl an diesem 9. November. Elftklässler des Ignaz-Taschner-Gymnasiums (ITG) knien vor ihnen, im Schatten des ehemaligen Wohnhauses der Familie Wallach, Polierwolle in den Händen. Dunkel sind sie geworden, die Messingsteine, vom Dreck der vergangenen Wochen. Leicht zu übersehen. Die Zeit ist gnadenlos. Hier, in der Oskar-von-Miller-Straße 1, und anderswo.

Im Vorbeigehen ist das Polieren der Steine nicht getan. Man braucht viel Kraft. Man braucht Geduld. Man muss sich darauf einstellen, dass die Schmutzschicht widerständig ist und nicht weichen will. Man muss so lange putzen, bis der Stein wieder so glänzt, dass man sich selbst darin erkennt.

Während die Schüler knien, steht Gästeführerin Brigitte Fiedler. Sie erzählt von der Familie Wallach, holt ihre Biografien zurück in die Straße, von der nachts die SA-Männer kamen, an ihre Tür schlugen und sie aufforderten zu verschwinden. Währenddessen hat sie einen Blick auf die Schülerinnen und Schüler. Machen sie es gescheit? Es ist nicht der harte Blick einer Wächterin, es ist der Blick einer Frau, die Beistand leistet.

Selbst Hitler gefielen die Wallach-Stoffe

Melitta Wallach, so erzählt Fiedler, wurde am 8. Januar 1894 in Darmstadt geboren und arbeitete Anfang der 1920er-Jahre im "Volkskunsthaus Wallach", einem fünfstöckigen Handelszentrum in München. Sie heiratete Max, der die Dachauer Weberei und Stoffdruckerei leitete, die das Volkskunsthaus belieferte. Gardinen, Tischdecken, Dirndl, die farbenfrohen Drucke waren bald überall zu sehen.

"Das war der Lifestyle der Zeit", erzählt Fiedler. Es gibt ein Foto mit dem Titel: "Der zufriedene Führer". Hitler ist auf dem Bild, lachend in einer gemütlichen Stube im Berghof bei Obersalzberg zu sehen, hinter ihm Wallach-Vorhänge mit den Drucken von Max Wallach.

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Melitta und Max bekamen einen Sohn, Franz. Vor 85 Jahren, in der Nacht vom 8. auf den 9. November, wurde das Ehepaar aufgefordert, noch vor Sonnenaufgang die Stadt zu verlassen, wie andere jüdische Dachauer. Über München kam das Paar nach Paderborn. Dem Sohn Franz gelang im August 1939 die Flucht nach England. Das Ehepaar wurde im Juli 1942 aus Paderborn in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Am 30. Oktober 1944 wurden sie in der Gaskammer ermordet.

Wie kleine Narben durchfurchen die mehr als 105 000 handgroßen Messingplatten den Kontinent, eine Geografie der Gewalt, Europa ein Friedhof. Jeden Tag kommen neue hinzu, es ist das größte dezentrale Mahnmal der Welt. Künstler Gunter Demnig setzte 1995 den ersten Messingblock, 18 Jahre alt sind die ältesten der 15 Dachauer Steine.

Ist das die angemessene Art des Gedenkens?

Unumstritten ist die Art des Gedenkens selbst bei Jüdinnen und Juden nicht. Die bekannteste Gegnerin ist Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und mehrere Jahre Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland. Sie nannte das Projekt einmal "unerträglich". Die Steine würden dazu einladen, die Opfer mit Füßen zu treten. In München sucht man sie daher bis heute auf öffentlichen Plätzen vergeblich.

Nach einem Jahr sind die Stolpersteine der Wallachs in der Oskar-von-Miller-Straße schon wieder matt geworden und müssen... (Foto: Toni Heigl)
...aufpoliert werden. (Foto: Toni Heigl)
Gästeführerin Brigitte Fiedler mit den Schülern des Ignaz-Taschner-Gymnasiums. (Foto: Toni Heigl)

Hier in Dachau sieht man das eher wie der Künstler Demnig. "Wenn man auf die Steine hinunterblickt, ist es, als würde man sich vor den Opfern verbeugen", so deutet es Gästeführerin Fiedler. Die Steine ergänzten die zentralen Gedenkstätten um die Erinnerung im Alltag, auf dem täglichen Arbeitsweg, auf Reisen, beim Weg in die Schule.

Recht hat Knobloch jedenfalls damit, dass die Steine ungeschützt sind. 900 Stolpersteine seien seit Projektstart beschädigt oder entwendet worden, sagte Künstler Demnig dem Tagesspiegel in einem Interview. Er habe mehrere Morddrohungen bekommen. Bei der Verlegung gebe es Polizeischutz. Angst habe er trotzdem nicht.

Die Schülergruppe zieht weiter. In der Herrmann-Stockmann-Straße 27 hält sie, dort, wo der Messingstein für Alice Jaffé liegt. Fünf Jahre lang hat sie hier gewohnt, in der Nähe ihrer Tochter Johanna. Am 11. oder 12. Juli 1944 ermordeten die Nationalsozialisten Alice Jaffé in einer Gaskammer im KZ Auschwitz. Nur der Anfang einer tragischen Familiengeschichte. Weitere Familienmitglieder folgten ihr in den Tod.

Für die Nachfahren ist der Stolperstein auch ein persönlicher Gedenkort

Alice Jaffés Urenkel Mark und Alex Tittel sind aus Texas angereist, wieder, vergangenes Jahr waren sie auch schon da. Gerade kommen sie aus Schweinfurt, von der Verlegung weiterer Stolpersteine im Gedenken an ihre Familie. Den Dachauer Stein ihrer Urgroßmutter möchten sie selbst polieren, wenigstens das wollen sie sich nicht nehmen lassen. Ein Ersatz für ein Grab, scheint es. Eine Art Versöhnung, wenn auch eine ganz kleine, zehn auf zehn Zentimeter.

Die letzte Station: Die Namen von Hans Neumeyer, Vera Neumeyer und Julius Kohn sind in Messing eingraviert. Hans Neumeyer erblindete mit 14, umso besser war sein Gehör. Er studierte Musik, komponierte und gründete eine Musikschule. Als Dozent lernte er Vera kennen, seine zukünftige Frau, die später Tanz und Gymnastik unterrichtete. Hans Neumeyer starb im Ghetto Theresienstadt an Tuberkulose, über Vera Neumeyers Tod ist nichts bekannt. Ihr letztes Lebenszeichen ist ein Brief, in dem sie schreibt, sie fahre mit einem Zug nach Osten. Der Untermieter des Ehepaars, Julius Kohn, arbeitete zeitweise im Dachauer Rathaus. Er wurde im KZ Auschwitz ermordet.

Fiedler kommt zum Abschluss, sagt noch etwas zur Bedeutung dieses Projekts. Ihre Worte gehen im Motorenlärm der Hermann-Stockmann-Straße unter. Ihre Worte mag der Lärm übertönen, die Namen bleiben in Erinnerung. Die Steine blitzen wieder.

Richtigstellung: In einer früheren Version dieses Textes hieß es, dass Wallach-Stoffe auch mit nationalsozialistischen Symbolen versehen gewesen sollen. Das stimmt nicht. Auch hat Brigitte Fiedler Max Wallach nicht einen "Angepassten" genannt. (SZ)

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