Jahrestag der KZ-Befreiung:Lange Lichterkette der Zuversicht

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Zum 79. Jahrestag der Befreiung des KZ Dachau bilden Hunderte Menschen eine Lichterkette entlang des Weges des Erinnerns in Markt Indersdorf. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Hunderte Menschen versammeln sich mit Kerzen und Laternen entlang des Weges des Erinnerns in Markt Indersdorf. Sie erinnern an die NS-Verbrechen an Säuglingen und setzen ein Zeichen gegen demokratiefeindliche Tendenzen.

Von Renate Zauscher, Markt Indersdorf

Eine schier endlose Lichterkette zog sich am Montagabend entlang des "Weges des Erinnerns" in Markt Indersdorf hin. Zwischen 300 und 400 Menschen, alle mit Kerzen oder Laternen in der Hand, dürften es gewesen sein, die zum Wasserturm gekommen waren, um ein Zeichen zu setzen gegen demokratiefeindliche Tendenzen in der Gesellschaft und Politik sowie für ein friedliches Zusammenleben.

Ort und Zeitpunkt der Veranstaltung waren sehr bewusst gewählt: Zum einen wurde das Konzentrationslager Dachau am 29. April 1945 von den Amerikanern befreit. Zum anderen verbindet der Weg des Erinnerns die ehemaligen "Kinderbaracke" - in der 35 Säuglinge, Kinder von osteuropäischen Zwangsarbeiterinnen, durch Vernachlässigung systematisch ermordet wurden - mit dem Bezirksfriedhof an der Maroldstraße. Dort wurden diese jüngsten, meist nur wenige Tage oder Wochen alten Opfer des Nationalsozialismus beigesetzt.

"Lichter des Erinnerns" war der Titel der Veranstaltung, zu der das "Demokratiebündnis im Dachauer Land" und mehr als 60 Unterstützer-Organisationen und Gruppierungen eingeladen hatten. Dieser Titel, sagte Versammlungsleiter und Moderator Hubertus Schulz am Wasserturm, verbinde den Blick auf die Vergangenheit mit der Hoffnung, dass daraus "Lehren, aber auch Warnungen für die heutige Zeit" gezogen würden. Wie wichtig es sei, sich zu erinnern und damit einer Aushöhlung demokratischer Strukturen entgegenzutreten und erneutem Terror vorzubeugen, unterstrichen unisono alle, die am Wasserturm sprachen. Das Erinnern beinhalte aber auch den Aufruf zu handeln, sagte Schulz: "Wir stehen vor Wahlen und können das Privileg der freien Wahl in unserem Land nutzen und die Demokratie stärken."

"Lasst uns protestieren, wenn antisemitische Parolen wieder salonfähig werden"

Kerstin Schwenke, Leiterin der Bildungsarbeit an der KZ-Gedenkstätte in Dachau, sprach davon, dass der Tag der Befreiung keineswegs das Ende der Leidensgeschichte für die Menschen im Lager war: 5000 Tote fanden die amerikanischen Soldaten dort vor, weitere 2000 Häftlinge starben binnen der nächsten Wochen an Entkräftung und Krankheiten. Insgesamt wurden über 40 000 Menschen im KZ Dachau ermordet.

"Lasst uns hinsehen und protestieren", sagte Schwenke, "wenn demokratische Politikerinnen und Politiker offen angefeindet oder gar bedroht werden" und wenn "antisemitische und rassistische Parolen wieder salonfähig werden". Es erfülle sie mit großer Sorge, wenn heute eine Partei in deutsche Parlamente gewählt werde, deren Vertreter "eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad" forderten, wenn das Leid der Opfer des NS-Terrors als "Vogelschiss in der Geschichte" bezeichnet werde oder man beschönigend von "Remigration" rede und damit die Zwangsdeportation deutscher Bürgerinnen und Bürger gemeint sei, die nach rassistischen Kriterien "sortiert" würden.

Der ukrainische Folklorechor tritt unter der Leitung von Daria Khramtsova auf. (Foto: Niels P. Jørgensen)
Zu der Lichterkette hatte das "Demokratiebündnis im Dachauer Land" und mehr als 60 Unterstützer-Organisationen und Gruppierungen eingeladen. (Foto: Niels P. Jørgensen)
Schülerinnen und Schüler lesen die Namen der Säuglinge, die in der NS-Zeit in Markt Indersdorf ermordet wurden. (Foto: Niels P. Jørgensen)
Erinnern beinhalte auch den Aufruf zu handeln, sagt Hubertus Schulz am Rednerpult. (Foto: Niels P. Jørgensen)
Der Weg des Erinnerns verläuft von der ehemaligen "Kinderbaracke" zum Bezirksfriedhof an der Maroldstraße. (Foto: Niels P. Jørgensen)

An einen Aspekt des NS-Terrors, der auch mit Markt Indersdorf verbunden ist, erinnerte Tizian Bartling, Historiker des Bayerischen Roten Kreuzes: an die sogenannten "Durchgangslager", in die man ausländische Zwangsarbeiter brachte. Eines dieser "Dulags" war in der Rothschwaige. Die Mütter, deren Kinder in Indersdorf ermordet wurden, gehörten zu den Millionen Männern und Frauen, die als Arbeitskräfte nach Deutschland verschleppt worden waren.

Die Namen der Kinder, die in Indersdorf geboren und ermordet wurden, sind dank der Forschungsarbeit von Anna Andlauer bekannt. Sie wurden von zehn Schülerinnen und Schülern der Realschule und der Fachoberschule Markt Indersdorf sowie von zwei Lehrkräften verlesen. Der Tod dieser Kinder mache "sprachlos", sei "unfassbar" und "unendlich traurig", sagte Tobias Draxler, Leiter der Fachoberschule. Mit der Nennung jedes einzelnen Namens wolle man den Kindern "ihre Identität, ihre Würde zurückgeben".

Vorfahren der Chormitglieder litten unter dem NS-Vernichtungskrieg gegen die Ukraine

Was die Ermordung der Säuglinge für ihre Mütter, darunter viele aus der Ukraine, bedeutet hat, daran dürften die Menschen am Wasserturm gedacht haben, als sie dem ukrainischen Folklorechor der Musikschule Unterschleißheim zuhörten. Die Chormitglieder, sieben Sängerinnen und ein Sänger, unter der Leitung von Daria Khramtsova, trugen Volkslieder und ein fast 130 Jahre altes Kirchenlied von Mykola Lysenko vor, in denen es um leidvolle Erfahrungen und um die Hoffnung für ihr Heimatland ging. Hubertus Schulz sagte, dass auch die Ukraine, in der heute wieder Krieg herrscht, zu den Ländern gehörte, "die zu Zeiten des deutschen Nationalsozialismus unglaublich viele Verluste hinnehmen mussten". Auch Vorfahren der Chormitglieder hatten zwischen 1941 und 1945 unter dem NS-Vernichtungskrieg gegen die Ukraine gelitten. Daria Khramtsova selbst ist mit ihrer Mutter aus Charkiw geflohen.

Musikalisch vermittelt wurde auch der Gedanke, dass Demokratie in Deutschland eng mit dem Zusammenhalt Europas verbunden ist: An den einzelnen Wegstationen spielte die Blaskapelle Schönbrunn die Europahymne. Zuletzt läuteten fünf Minuten lang die Indersdorfer Kirchenglocken, ehe die Menschen, spürbar betroffen von dem, was sie gehört und erlebt hatten, langsam den Heimweg antraten.

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