Kritik an Behörden:Verstrahlte Wildschweine

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31 Jahre nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl sind noch viele Tiere radioaktiv belastet. Für den Handel wird das Fleisch getestet, aber Jäger, die ihre Beute selbst verzehren, tun das häufig nicht. Der Ex-Strahlenschutzbeauftragte Helmut Rummel fordert mehr Aufklärung

Von Thomas Altvater, Dachau

31 Jahre liegt das Unglück nun zurück. Am 26. April 1986 explodierte der Reaktor 4 des sowjetischen Atomkraftwerks in Tschernobyl bei einem vermeintlich sicheren Testlauf. Was damals vermutlich nur wenige ahnten, ist heute traurige Gewissheit, denn die Folgen des Unglücks sind Jahrzehnte später, im Jahr 2017, noch immer spürbar. Auch im mehr als eintausend Kilometer entfernten Bayern - und auch im Dachauer Land. Denn viele Wildschweine sind belastet. Über Futter im Waldboden gelangen radioaktive Substanzen in den Organismus der Tiere. Der ehemalige Strahlenschutzbeauftragte der Bundeswehr, Helmut Rummel, sieht das als unterschätzte Gefahr, vor allem für die wachsende Zahl der Jäger, die das Fleisch der Tiere selbst verzehren. Rummel kritisiert, dass die Jäger nicht hinreichend informiert werden. Schuld daran hätten die zuständigen Behörden. Doch Dachauer Jäger widersprechen ihm.

Eine Messung des Wildfleischs auf Radioaktivität verlangt das Gesetz grundsätzlich nicht - nur wenn es zum Verkauf kommt. Für Verbraucher besteht deshalb kein Risiko, heißt es. "Die Jäger sind dazu verpflichtet, nur einwandfreies Fleisch abzuliefern", sagt der Dachauer Jäger Ernst-Ulrich Wittmann. Gastronomen, Metzger, Hoteliers würden kein Fleisch annehmen, das nicht vorher getestet wurde, sagt auch Fridolin Merz. Er betreibt die Dachauer Radiocäsium-Messstelle, wo Jäger ihr Wild auf radioaktive Belastung testen können. Zusätzlich könnten sich Verbraucher beim Kauf von Wildfleisch ein entsprechendes Formular zeigen lassen. Fleisch, das Werte über dem Grenzwert aufweise, werde vernichtet.

Für Jäger gibt es allerdings eine Ausnahme. "Wenn Jäger das Fleisch selbst verzehren, dann müssen sie es theoretisch auch nicht messen lassen", sagt Merz, der auch Mitglied im Dachauer Jagdschutz- und Jagdverein ist. Doch er stellt klar, dass das keine Alternative ist. Nur mit einer Messung sei man auf der wirklich sicheren Seite, so Merz. Das sieht auch Ernst-Ulrich Wittmann ähnlich. Er selbst lasse jedes erlegte Schwein untersuchen. "Auch wenn in Dachau nur etwa vier Prozent der jährlich geschossenen Wildschweine über dem Grenzwert belastet sind, man muss weiterhin messen", so Wittmann.

"Der Landkreis Dachau ist durch das Unglück zwar weniger belastet worden. Doch jeder weiß, dass Wildschweine nicht an Landkreisgrenzen Halt machen", erklärt Helmut Rummel. Seit mehr als vier Jahren wertet er Messwerte von erlegten Wildschweinen aus Oberbayern, Niederbayern und der Oberpfalz aus. Insgesamt 2000 Werte aus den Messstellen hat er bereits analysiert. Auffälligkeiten im Landkreis Dachau habe er bisher nicht feststellen können. Eine Entwarnung? Nein, denn in den umliegenden Landkreisen München, Pfaffenhofen und Fürstenfeldbruck seien Werte gemessen worden, die den deutschen Grenzwert für radioaktiv belastetes Fleisch überstiegen haben. Nun will Helmut Rummel vor allem Jäger warnen.

Geigerzähler sind seit Tschernobyl Mangelware. Mit ihnen kann die Umgebungsradioaktivität gemessen werden. (Foto: Christian Endt)

Den Rat, jedes erlegte Wildschwein untersuchen zu lassen, nehmen sich nur wenige Jäger zu Herzen, wenn man den Recherchen von Helmut Rummel glaubt. Rummel betrieb selbst fast fünf Jahre lang eine Radiocäsium-Messstelle. Er kam zu dem Ergebnis, dass ungefähr 11 000 der rund 25 000 in Südbayern erlegten Wildschweine im Jahr 2015 nicht gemessen, aber trotzdem verzehrt wurden. "Wenn der Jäger fünf Wildschweine misst, die alle unter dem Grenzwert liegen, und dann sagt: Gut, bei mir im Revier gibt es keine Strahlenbelastung, dann kann das sechste Schwein trotzdem belastet sein", sagt Rummel. Hauptschuldige sind für ihn die zuständigen Ämter, die die Messergebnisse nicht transparent genug veröffentlichten. Dadurch würden die Jäger desinformiert werden, sagt Rummel. Auch den Bayerischen Jagdverband greift er an. "Das Risiko wäre vermeidbar, wenn jedes erlegte Wildschwein einer Messung unterzogen wird. Das ist aber im Bereich des Bayerischen Jagdverbands nicht der Fall", erklärt Rummel.

Fridolin Merz kann die Kritik nicht verstehen. Jedes halbe Jahr übermittelt er die Ergebnisse seiner Messungen an den Jagdverband, der wiederum gibt die Daten an das Ministerium weiter. Doch öffentlich einsehbar seien die Werte nicht, erklärt Merz. Auch das Landratsamt bekomme keine Daten vom Jagdverband, so Merz. Für ihn stellt das kein Problem dar. "Wer die Werte braucht oder sie unbedingt einsehen will, der kann einfach zu mir kommen." Dass die Jäger einer Gefahr ausgesetzt sind, weil sie nicht ausreichend informiert würden, dem widerspricht Merz. "Beim Jagdverband wird viel Aufklärungsarbeit betrieben", sagt auch Ernst-Ulrich Wittmann. "Die Revierinhaber wissen auf jeden Fall alle Bescheid, 2016 gab es zum Beispiel eine große Infokampagne und die Untersuchungszahlen sind in den letzten Jahren weiter gestiegen", so Wittmann.

Tatsächlich sind einige Messwerte auf der Homepage des Landesamts für Umwelt einsehbar. Doch Helmut Rummel sagt, dass dort nur wenige Stichproben erfasst seien. Die letzte Eintragung für den Landkreis Dachau liegt zwei Monate zurück. Für seine Recherchen sind Helmut Rummel nicht alle Jäger dankbar. Der Jagdverband zweifelt an seinen Ergebnissen. "Einem Großteil der Jäger ist das anscheinend nicht recht, weil sie die Werte nicht haben", vermutet er. Für Rummel macht das keinen Sinn. Jäger, die belastetes Wild über dem Grenzwert erlegt haben, erhalten eine Entschädigung über das Atomausgleichsgesetz. Und diese Entschädigung sei höher, als wenn das Fleisch verkauft werde. Für Rummel ist klar: Die Ergebnisse der Messungen müssten für alle verfügbar sein. "Man muss mit offenen Karten spielen."

© SZ vom 09.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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