Josef Gareis:Buchhalter der Natur

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Seit 34 Jahren geht Josef Gareis jeden Tag mindestens einmal täglich an die Amper, beobachtet die Natur und notiert im Detail Tiere und Pflanzen. Die Ergebnisse seiner insgesamt 6943 Exkursionen präsentiert der 88-Jährige auf Führungen und in mittlerweile drei Büchern.

Von Andreas Förster

"Was macht einer, der mit 55 Jahren in Rente geht? Der gezwungen ist, den Lebensmittelladen, das Lebenswerk, aufzugeben, weil die Bandscheibe nicht mehr mitmacht? Zur Ruhe setzen oder zum Vergnügen verreisen? Beides ist nichts für Josef Gareis. Auch die Pflege des Gartens hinter seinem Haus in Dachau-Süd kommt nicht in Frage, das ist das Revier seiner Frau. Der heute 88-Jährige will stattdessen die Natur erkunden, so genau, so tiefgründig, wie es nur geht. Und warum in die Ferne schweifen, wo das Gute so nah liegt?

Am 1. Januar 1981 marschiert er zum ersten Mal an die Amper, ausgerüstet mit Rucksack, Fernglas, Papier und Bleistift. Damit erfüllt er sich einen Lebenstraum. Schon als Kind, damals noch in der Porzellanstadt Schlaggenwald, unweit von Marienbad im heutigen Tschechien, liebt er es, durch den nahen Kaiserwald zu streifen. "Die Natur hat mich regelrecht überwältigt, immer schon", erzählt Gareis. 1949, nach fünfjähriger Kriegsgefangenschaft in Russland, kommt er nach Dachau, ins Auffanglager. Hier lernt er seine Frau Elisabeth kennen, die beiden sind seit nunmehr 62 Jahren verheiratet.

Die Zeit scheint für Josef Gareis stehen geblieben zu sein. Wie ein Siebzigjähriger sieht er aus, spricht mit klarer, lauter Stimme, erzählt lebendig und voller Leidenschaft von seinem Hobby, der Naturbeobachtung, den Exkursionen, den exakten Eintragungen und den daraus entstandenen Büchern. Ein Zimmer seines Hauses ist voll mit ausgestopften Tieren. Die meisten davon hat er auf seinen Touren gefunden. Große und kleine Vögel, verendet durch Stromschläge an Hochspannungsleitungen, oder an den großen Fenstern der Grundschule Dachau-Süd. Alle Fundstücke hat er präparieren lassen: Rotfuchs, Dachs, Steinmarder, Mauswiesel, Graureiher, Wacholderdrossel und vieles mehr. Auch ein Fasan ist dabei, den hat er vor 30 Jahren gefunden.

"Heute gibt es ja kaum noch welche", sagt er traurig. Und ein seltener Kormoran, den hat er am Werkkanal aufgelesen. "Der war bei einer Treibjagd von Jägern geschossen worden, sie haben ihn dann wohl übersehen", berichtet Gareis. Pech für die einen, Glück für die anderen. Denn neben dem Gareis selbst profitieren auch Kindergärten, Schulklassen, Senioren, sogar Firmen aus dem Landkreis Dachau. Seine Vorträge und Führungen sind begehrt. In eine Naturschutzorganisation will er aber nicht eintreten. "Ich bin ein Einzelkämpfer", schmunzelt Garreis, "da hab ich alles unter meiner Kontrolle." Alles, was er über die Natur weiß - und das ist eine ganze Menge - gibt er direkt an Interessierte weiter.

Seit mehr als 34 Jahren wandert der 88-Jährige praktisch täglich an der Amper entlang, von Mitterndorf bis zur Bruno-Schubert-Wiese oder bis zur B 471. In 17 Tagestouren hat er den Fluss auch schon beidseitig auf der ganzen Länge abgelaufen. Jede Exkursion hat er chronologisch dokumentiert und jede Beobachtung nach Art, Gattung, Familie, Gefährdungsgrad und schließlich sogar alphabetisch in einem wissenschaftlich nutzbaren Kompendium festgehalten. Darin befinden sich 4780 Namensnennungen, darunter so komplizierte wie "Silberpunkthöckereule, hell gefranste".

"Eine umfassende Bestandsaufnahme meiner Naturbeobachtungen" nennt er die Dutzenden von Kladden, die sich über die Jahre angesammelt haben. Nicht einen Tag hat er seit seinem Ruhestand ausgelassen. So hat Gareis bei seinen bislang genau 6943 Rundgängen an der Amper 160 unterschiedliche Vogelarten beobachtet und beschrieben. Dazu 24 Fischarten, 25 Säugetiere, 51 Schmetterlinge, 233 Nachtfalter, 244 Pilze, 568 Blütenpflanzen und 69 Gräser und Farne. Macht zusammen 1374 Arten. "In ein Buch passt das alles gar nicht hinein", scherzt Gareis. Und tatsächlich braucht es drei Bände, betitelt: "Naturkundliche Beobachtungen an der Amper." Es ist ein zeit- und kostenintensives Hobby. "Allein in die Bestimmungsbücher hab ich eine Menge Geld investiert"", versichert Gareis. "Aber es hat sich gelohnt." Mit einigem Stolz blickt er auf sein zweites Lebenswerk, welches das erste längst in den Schatten gestellt hat und ihn einmal überdauern wird. Große Ziele hat er nicht mehr: "Jetzt will ich erst mal nur die 7000-Marke erreiche."

Einen Wermutstropfen gibt es aber auch: Seine Beobachtungen und die sorgfältige Statistik lassen keine Zweifel zu - um unsere Natur ist es nicht gut bestellt. "Viele Tiere sind in den letzten 30 Jahren aus unserer Gegend verschwunden", weiß Gareis. Das belegen seine eigenen Beobachtungen und Statistiken und der Vergleich mit Standard-Fachliteratur.

"Praktisch weg sind Trauerschnäpper, Wendehals, Waldkauz, Wiesenpieper, Rohrdommel, Sternschmatzer, Waldohreule, Raubwürger, Waldschnepfe, Nachtreiher, Rebhuhn und noch so manch anderer Vogel", meint Gareis. "Ich muss heute im Winter fünf Touren machen, um ein grünfüßiges Teichhuhn zu sehen. 1985 konnte ich 17 dieser Teichhühner auf einmal beobachten."

Lichtblicke gebe es auch, doch die seien eher bescheiden: "Der Gänsesäger brütet seit 1993 wieder regelmäßig bei uns. Dass ich mit einem Freund Bruthilfen aufgebaut habe, hat dabei sicher auch geholfen", so Gareis. "Der Haubentaucher brütet an der Maisach-Einmündung, die Kanada-Graugans und die Wasseramsel haben das Gündiger Wehr als Brutplatz für sich entdeckt." Eine wachsende Population gebe es nur noch beim Grünspecht und der Mönchsgrasmücke.

Am meisten bereiten ihm die Schmetterlinge Sorgen. "Seit den 90er Jahren geht es sowohl mit der Vielfalt als auch mit der Anzahl rapide bergab, selbst ein Admiral oder ein Tagpfauenauge zählen schon zu den Raritäten." Dasselbe gelte für die Blütenpflanzen: Viele seien ausgemerzt, nur wenige kämen hinzu oder entwickelten sich positiv. Gut, dass er sie alle präpariert hinter Glas zuhause hat und vorzeigen kann.

© SZ vom 03.06.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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