Mitten in Dachau:Abhauen und autark leben

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Ausleihschlager des Jahres 2023: ein Reiseführer über den Balkan; (Foto: privat/Stadtbücherei Dachau)

Was die Dachauer in ihrer Bücherei ausleihen, verrät viel über ihren Gemütszustand.

Glosse von Jessica Schober, Dachau

Dass Dachau liest, zeigt sich nicht nur beim alljährlichen Literaturfestival im Herbst, sondern das ganze Jahr über. Die Stadtbücherei und ihre Zweigstellen besuchen im Durchschnitt 6000 Menschen pro Monat. Was machen die alle da? Nicht nur das, was man sich als schreibender Mensch so vorstellt - pausenlos unersättlich lesen. Sondern viel mehr als bloß Buchstabenmuster auf bedrucktem Totholz zu studieren. Abgefahrene Sachen wie Lastenräder ausleihen, Grünpflanzen tauschen oder Kunst ausborgen. Oder in Ruhe arbeiten, ausruhen, ja sogar Legotürme bauen. Bücher sind dennoch begehrt, wie die Liste der meist ausgeliehenen Titel zeigt, die die Stadtbücherei jetzt veröffentlicht hat.

Spitzenmäßige 24 Mal im Jahr wurde ein Balkan-Reiseführer ausgeliehen. Bei zwölf Monaten im Jahr und vier Wochen Leihfrist, muss man also davon ausgehen, dass das Buch kaum, dass es im Regal stand, schon wieder vergriffen war. Womöglich haben künftige Balkan-Urlauber gar vor dem Reiseführerregal campiert, um den Tourguide rasch zu erhaschen. Ob die Stadtbücherei die Anschaffung eines Zweitexemplars erwägt, ist indes nicht bekannt. Online-Käuferinnen des Charts-Siegers sind derweil uneins über die fachliche Qualität des Werkes: Einige loben die Konzentration aufs Wesentliche, andere beklagen seine Oberflächlichkeit. Ganz so wie man das von einem guten Popsong an der Spitze der Charts erwartet. Nebenbei beklagt eine Leserin jedoch, dass ihr die Bildunterschriften im Balkan-Reiseführer nicht gefielen, insbesondere: "Warten am Wurststand".

Balkonkraftwerke und Bauernhöfe begeistern

Gleichermaßen nachgefragt waren der Ratgeber "Balkonkraftwerk" von Stefan Tomik und das Buch "Ein Hof und elf Geschwister" von Ewald Frie mit jeweils 18 Ausleihen. Die Bücherei sieht hier eine Trendmanifestation: "Die Zukunft der Energieversorgung und das Verschwinden der bäuerlichen Form der Landwirtschaft sind Beispiele für Themen des gesellschaftlichen Wandels, bei denen die Bücherei-NutzerInnen offensichtlich Orientierung suchen." Wollen die Dachauerinnen und Dachauer also entweder abhauen oder autark leben? Oder gar beides? Rüsten sie sich für eine Zeit, in der sie Strom und Gemüse aus eigener Herstellung horten, um miese Tage zu überstehen?

Darauf deuten zumindest die Belletristik-Ausleihen hin. Denn auch hier ist das Eskapismusbedürfnis groß: Dörte Hansens "Zur See", das auf keinem Strandtuch fehlen darf, wurde 45 Mal ausgeliehen. Ein Mal öfter sogar der Krimiroman "Affenhitze" von Volker Klüpfel und Michael Kobr. Wer küchenpsychologisch von Titel auf Gemütszustand der Lesenden schließen will, wird auch über die 34 Ausleihen von Ewald Arenz' "Die Liebe an miesen Tagen" stolpern. Man kann sagen: Die Dachauer sind literarisch gewappnet für eine miese affenheiße Zukunft fernab der Heimat.

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