"Dachau liest":Spannender Einblick in eine fremde Welt

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Die Autorin Nava Ebrahimi (links) und die Literaturwissenschaftlerin Maryam Aras stellten bei "Dachau liest" den Roman "Das Paradies meines Nachbarn" vor. (Foto: Niels P. Jørgensen)

50 Interessierte erhalten bei der Lesung im Ludwig-Thoma-Haus einen tief gehenden Einblick in den Roman der deutsch-iranischen Autorin Nava Ebrahimi. Dazu erläutert sie geschichtliche und islamwissenschaftliche Hintergründe.

Von David Schmidhuber, Dachau

Zur Lesung von Nava Ebrahimi, 2021 Gewinnerin des Ingeborg-Bachmann-Preises, sind am Freitagabend knapp 50 Besucher zum Literaturfestival "Dachau liest" in das Ludwig-Thoma-Haus gekommen. Sie erhielten einen sehr spannenden und informativen Einblick in den Roman der deutsch-iranischen Autorin, der die gegensätzlichen Welten des mittleren Ostens und des Westens zueinander bringt. Im Gespräch zwischen der Autorin Nava Ebrahimi und der Moderatorin Maryam Aras erfuhr das Publikum wichtige geschichtliche und islamwissenschaftliche Hintergründe, was die Tiefgründigkeit von Nava Ebrahimis Roman verdeutlichte und die Spannung verstärkte.

Zentrales Thema ihres Romans "Das Paradies meines Nachbarn" ist der Iran-Irakkrieg, der, so die Autorin, "längste konventionelle Krieg der Welt seit dem Zweiten Weltkrieg, mit über einer Million Toten". Und sie betonte: "Man kann den Iran nicht verstehen, wenn man sich diesen Krieg nicht genauer ansieht." Als Ebrahimi zu Beginn mit der Moderatorin des Abends, Maryam Aras, Islam- und Literaturwissenschaftlerin, die Hauptcharaktere des Buches vorstellte, wurden schon die Gegensätze zwischen den drei Hauptfiguren sehr deutlich.

Ein Stardesigner, ein Kriegsversehrter und ein Angestellter sind die Protagonisten

Ali Najjar ist Stardesigner, dessen Weg vom Kindersoldaten im Ersten Golfkrieg über seine Flucht nach Deutschland bis zur anschließenden Karriere im Westen gekennzeichnet ist. Kontakt zu seiner Familie hat er kaum mehr. Najjar gibt sich furchtlos. Interessant ist, dass ihn aber ausgerechnet ein Brief aus Teheran schwer beschäftigt. Er soll eine Nachricht seiner verstorbenen Mutter in Dubai bekommen, die ihm sein Ziehbruder Ali-Reza übergeben wird. Ali-Reza, ein Kriegsversehrter und früherer Kindersoldat im Ersten Golfkrieg, sitzt im Rollstuhl. Er stammt aus ärmlichen Verhältnissen. Ali Najjar und sein Ziehbruder Ali-Reza haben sich nie kennengelernt - und das soll aus Sicht Najjars auch so bleiben. Daher entscheidet sich Najjar kurzerhand, dass sein Angestellter Sina die Nachricht in seinem Namen abholen soll. Sina soll also Ali Najjar spielen und nach Dubai reisen. Sina ist Halb-Iraner, aber obwohl er einen iranischen Namen hat, spricht er die Sprache nicht und hat keinerlei Verbindung in den Iran.

Der erste Teil der Lesung erzählte aus der Perspektive von Najjars Ziehbruder Ali-Reza. Dieser ist in Gedanken bei der Nachricht und bei Ali-Najjar und überlegt, ob er seinen Pflichten als Kindersoldat hätte entfliehen können. Warum hat er nicht an eine Flucht gedacht, um Asyl zu beantragen? Ali-Reza erinnert sich an einschneidende und auch schöne Momente zurück, etwa an die Schule, die sein Lieblingsort war. Mehr noch wird aber die große Traumatisierung durch die Erlebnisse als Kindersoldat deutlich, als er über den Blick auf seine Bettwäsche und Matratze in seinem Zimmer in Gedanken bei nachgiebigem Material unter den Stiefeln landet, die sich als menschliche Körper herausstellen. Aus den schrecklichen Erinnerungen kann er nur durch positive Gedanken entkommen, zum Beispiel, indem er an die Rettung eines Kaninchens in früheren Jahren denkt. Autorin Ebrahimi schafft es mit genauen Detailschilderungen, die Zuhörer in die Gedankenwelt von Ali-Reza eintauchen zu lassen, um trotzdem nur im Ansatz erahnen zu können, wie traumatisch seine Kriegserlebnisse waren.

Der Roman wird aus drei Perspektiven erzählt

Im zweiten Abschnitt wird der Angestellte Sina zur erzählenden Figur, insgesamt entwickelt sich der Roman aus drei Perspektiven, der von Sina, Ali-Reza und Ali Najjar. Bevor Sina im Buch das Wort ergreift, sprachen Ebrahimi und Moderatorin Aras über die Charaktereigenschaften der Figuren, die teilweise Parallelen zur 44-jährigen Autorin aufweisen, wie sie selbst feststellte. "Ich würde sagen, dass ich persönlich wenig Rassismus erfahren habe. Dabei ist mir lange Zeit gar nicht aufgefallen, dass ich bewusst Rassismus internalisiert habe." Sie habe früher versucht, sich Verhaltensweisen anzueignen, um sanft und ungefährlich zu wirken und nicht aufzufallen. "Wenn ich zum Beispiel im Zug auf die Toilette wollte, habe ich nicht einfach meine Tasche abgestellt und bin gegangen."

Sina wartet in der Hotellobby in Dubai auf Ali-Reza, um die Nachricht als Ali Najjar entgegenzunehmen. Während er seine Blicke schweifen lässt, fällt ihm ein Tisch mit zwei weißen Geschäftsleuten auf. Sofort muss er an Schmiergeld denken und spürt, wie Aggressionen in ihm aufsteigen. Immer wieder stellt Sina diese Gefühle an sich fest, obwohl er sich nur an kleine rassistische Vorfälle erinnern kann. Seine Erfahrungen im Nahen Osten basieren lediglich auf einer Reise nach Marokko und in den Libanon, trotzdem kommen immer wieder Erinnerungen an Demütigungen hoch. Er fragt sich: Warum trifft ihn das Leid des Nahostkonflikts so sehr? Autorin Nava Ebrahimi erläuterte, das sei eine weitere Gemeinsamkeit des Charakters Sina und ihrer selbst.

Zum Schluss kommt die Mutter zu Wort

Zum Schluss des Abends ließ Ebrahimi die Mutter von Ali Najjar zu Wort kommen und las aus dem Brief an Ali Najjar vor. Najjars Mutter schildert darin ihre Gefühlslage, nachdem sie Najjar den Fluchthelfern in Teheran übergeben hat. Sie hat Angst, weint um ihren Sohn. Um auf andere Gedanken zu kommen, möchte sie ihre Cousine besuchen und fährt in eine andere Stadt. Die Cousine aber ist nicht da. Als sich Najjars Mutter später auf den Rückweg zurück nach Teheran macht und kurz vor dem Einsteigen ist, hört sie ein metallisches Geräusch, schaut auf und entdeckt einen Jungen im Alter ihres Sohnes: Es ist Ali-Reza. Er hat eine Verletzung und wirkt abgemagert. Najjars Mutter merkt, dass dieser Moment schicksalshaft ist, dass die Wahl nicht bei ihr liegt. Sie muss stehen bleiben und bittet Ali-Reza in ihr Auto, um seine Geschichte zu hören. Er berichtet von seiner Zeit als Kindersoldat und den Mullahs, die sich um seine Familie kümmerten. Sie unterzogen die Mutter einer Gehirnwäsche, erzeugten eine finanzielle und mentale Abhängigkeit und wollten ihn wieder in den Krieg schicken. Deswegen sei er geflohen, doch er überlege, sich zu stellen. Najjars Mutter rät ihm ab und denkt wieder an ihren eigenen Sohn. Als sich Ali-Reza bedankt und aussteigen möchte, fährt sie auf einmal los. Sie kann Ali-Reza nicht zurücklassen und nimmt ihn mit nach Hause nach Teheran. Ali-Reza wird ihr Ziehsohn.

"Najjars Mutter ist das größte Opfer, denn sie kann nicht das Richtige tun", ordnete Ebrahimi ein. "In einer Diktatur kannst du nichts richtig machen, wenn du aktiv versuchst, etwas zu tun." Auch Schuld und Verantwortung, zwei Aspekte, die Ebrahimi herausstellte, werden an dem Charakter deutlich.

Am Rande der Veranstaltung äußerte sich Nava Ebrahimi auch zur aktuellen Lage im Iran und den Protesten gegen das Mullah-Regime nach dem Tod der 22-jährigen Mahsa Amini - mit einer hoffnungsvollen Einschätzung: "Meine Hoffnung, dass sich etwas im Iran verändert, war noch nie so stark wie jetzt. Weil alle Gesellschaftsschichten beteiligt sind und auf die Straße gehen, weil die Protestierenden furchtlos sind und sich der mit Schusswaffen und Knüppeln bewaffneten Polizei in den Weg stellen. Gerüchten zufolge sollen die Basarhändler zum Streik aufgefordert sein, was 1979 entscheidend für die Revolution gewesen sein soll."

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