Kultur in Dachau:Ziemlich irre, ziemlich genial

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Der Auftritt des Ben LaMar Gay Ensembles ist das erste vom Jazz e.V. veranstaltete Konzert nach zweijähriger Pause. (Foto: Toni Heigl)

Für sein Comeback hätte sich der Jazz e.V. wohl keine bessere Besetzung wünschen können: Das Konzert des Ben LaMar Gay Ensembles in der Kulturschranne ist von unfassbarer Intensität, Emotionalität, Kreativität.

Von Andreas Pernpeintner, Dachau

Allein das ist eine Nachricht: Es fand wieder ein Konzert des Dachauer Jazz e.V. statt. Das erste Konzert seit Herbst 2020 - als Unterbrechung des "Dornröschenschlafs", wie es Programmkoordinator Axel Blanz ausdrückt, denn bis zum nächsten Konzert im kommenden Dezember muss man wieder warten. Das Personal der Kulturschranne scheint derweil, was das Zusammenwirken von musikalisch freiimprovisierter internationaler Hochkultur und bayerischer gastronomischer Geräuschkulisse betrifft, etwas aus der Übung gekommen zu sein. Manch ploppender Weinkorken und manches Flaschenscheppern sind in einigen Pianissimo-Passagen lauter als der leise Gesang zu subtiler Synthesizer-Fläche von der Bühne. Natürlich, eine Gratwanderung, denn ein weiteres Glas Rotwein soll ja sehr wohl serviert werden, und ein Jazzclub ist auch dann kein Raum der Andacht, wenn die Musik stilistisch dazu einlädt.

Mit dem Ben LaMar Gay Ensemble ist ein in seiner Klangentwicklung hochsensibles Jazz-Quartett zu Gast. Wie es zu diesem Engagement kam? Das Ensemble habe von sich aus angefragt, erzählt Blanz. Offenbar hat die Strahlkraft des renommierten Dachauer Jazzclubs während der Coronazeit nicht nachgelassen. Was folgt, ist ein fast zweistündiges Konzert von unfassbarer Intensität, Emotionalität, Kreativität. Wie soll man diese Musik beschreiben, eine Musik, in der gefühlt fast alles vorkommt, was an Klangerzeugung denkbar ist?

Die Atmosphäre während des Konzerts ist die eines Klanglabors

Ein paar Schlaglichter: Alle vier Musiker konzertieren im Sitzen, Ben Lamar Gay vorne als Sänger und meistens den Synthesizer bedienend. Die Atmosphäre in diesen Momenten ist die eines Klanglabors, eines Studios für experimentelle Neue Musik. Das Bassfundament für die elektronischen Klangflächen aber, es ist seinerseits nicht synthetisch, es entspringt dem riesigen, golden glänzenden Schalltrichter von Matt Davis' Sousafon, einem typischen Instrument der Marching Bands. Auf diese Weise denkt man trotz Elektronik an die Straßen von New Orleans, an Oldtime Jazz.

Gay singt dazu auf verträumte Weise wiederkehrende textliche Versatzstücke. Das klingt innig. Das ist wundervoll melodisch und durch das repetitive Moment zugleich eine rhythmische Komponente - und es gibt der Musik auch dann, wenn Gay zu kraftvollem Forte ansetzt, eine geradezu spirituelle Wirkung. Dann setzt Gay das Kornett an die Lippen, und ab dieser Sekunde sprechen er und sein Ensemble für einige Minuten eine Sprache, die jeder, der in diesem Moment den Saal beträte, sofort als Jazz verstehen würde.

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Faszinierend ist, wie selbstverständlich dabei die großformatigen Soundtableaus ineinander übergehen. Gerade noch hat Davis auf dem Sousafon ein geräuschvolles Fundament geblasen, mehr tieffrequentes Wabern als Basslinie; Schlagzeuger Tommaso Moretti und Gitarrist Will Faber haben dazu eine Klangkulisse geschaffen, die in sich irrsinnig schnell bewegt war, ohne aber einen wirklichen Beat oder Puls aufzuweisen. Und plötzlich sind alle zusammen mit Gay und von ihm durch ein Zeichen initiiert lupenrein koordiniert in einem rhythmisch klar gefassten Riff vereint.

Der Abend endet mit einem gesungenen Halleluja-Choral

Während der Pause glaubt man, nun das gesamte Ausdrucksspektrum dieses Quartetts kennengelernt zu haben. Was sollte noch möglich sein, was nicht schon gezeigt wurde? Als indes das zweite Set beginnt, nehmen die Musiker Holzflöten in die Hand, und die Musikgeschichte - so wirkt es im Kontrast zum digitalen Synthesizer - wird mit einem wunderschönen, morbiden, in der Intonation sanft überdehnten Umgarnen der elementaren Melodielinien weit zurückgedreht.

Als Gay wieder zum Kornett wechselt, steckt er den dritten seiner unterschiedlichen Schalldämpfer in den Trichter (ja, so feinsinnig werden Klangfarben hier abgestuft!). Auch die anderen kehren zurück zu ihren üblichen Instrumenten. Ein Crescendo setzt ein, steigert sich zum Forte - und Gay schreitet dazu, kreischend eruptive Impulse herausschleudernd, durch das Publikum, erschließt auf diese Weise den gesamten Saal als Klangraum.

Das zeigt deutlich: So prozessual die weitgespannten Kompositionen sind, so sehr ist hier jeder einzelne Augenblick ein Ereignis. Kurz darauf besteht die Musik unvermittelt daraus, dass alle vier Musiker aufrecht stehen und sanft angeschlagene Glocken vor den Mikrofonen schwenken, vereint zu harmonisch sphärischen Schwebungen. Doch man darf offenbar nie glauben, die kreative Lust dieses Ensembles sei jemals erschöpft. Denn angeschlagene Glocken kann man nicht nur verklingen lassen, man kann ihren Klang auch abstoppen, indem man sie sich an den Oberkörper presst. Und so skurril es choreografisch aussieht, wie die vier - jeder mit zwei Glocken - das über eine längere Passage mit exaltierter Gestik tun, es ist weit mehr als ein Gag. Schließt man die Augen, ist es schlicht ein großartiger rhythmischer Klangeffekt - ziemlich irre und ziemlich genial. Ein hypnotischer Abend voller Klang, Klangfarbe und Ausdruckskraft, der schließlich mit einem gesungenen Halleluja-Choral zu Ende geht.

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