Zeitgenössische Kunst in Dachau:Verrückte Welt

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Gefährliche Hanglage: "Narziss" von Christiane Fleissner. (Foto: Toni Heigl)

Raum und Zeit sind relativ. Diesem Prinzip folgen auch Astrid Busch und Christiane Fleissner mit ihren vielschichtigen Installationen und Collagen. Über eine etwas andere Kunstausstellung mit Berg- und Stadtlandschaften in der Neuen Galerie Dachau.

Von Gregor Schiegl, Dachau

Man hat ein bisschen Angst um "Narziss". Die mit Folie bedruckte Acrylglasscheibe, zwei Meter breit und fast eineinhalb Meter hoch, lehnt ziemlich schräg an der Wand auf einem zerkratzten, aber immer noch recht rutschigen Parkettboden. Jutta Mannes, die Kuratorin der Ausstellung in der Neuen Galerie, weist auf die dünne graue Silikonlippe, auf der die Kante des Glases sitzt. Die Wandskulptur von Christiane Fleissner sollte einigermaßen sicher stehen.

Ein bisschen mulmig kann einem bei dem Anblick trotzdem werden, vor allem, wenn man in das Glas hineinblickt. In diese nebulöse trübe Felslandschaft, die einen schon allein deshalb schwindeln lässt, weil man gar nicht so recht ausmachen kann, wo hier oben und unten ist, wo vorne und hinten. Gleichzeitig erzeugt die Transparenz des Glases eine Illusion bodenloser Tiefe, die eine unheimliche Sogwirkung entfaltet. Man kennt das von exponierten Orten. Nahe am Abgrund denkt man manchmal schaudernd daran, ob einen nicht irgendein irrer Impuls dazu veranlassen könnte, plötzlich über die Kante zu springen.

Dem Abgründigen lässt sich schnell entkommen, indem man an die Oberfläche zurückkehrt, zurück zu den Spiegelungen im Glas, in den Anblick des eigenen belämmerten Gesichts. Dem Narziss aus der griechischen Mythologie hätte Schlimmeres geblüht, er hätte sich in sein eigenes Ebenbild verliebt und wäre zu einer Blume geworden. Nach Mutmaßungen der Botaniker zu einer Narzisse.

Gletscher im Blumenregal

Dreht man sich einmal um seine eigene Achse, steht man vor einem ausgemusterten, aus Eisenteilen zusammengeschraubten Gärtnerei-Regal. Statt Regalböden liegen Glasplatten in den Stahlrahmen, die darauf abgebildeten schrundigen Strukturen sind die faltigen Züge eines Gletschers, aneinander gereiht und übereinander geschichtet, dazwischen klaffen immer wieder Lücken. Der Titel, den die studierte Bildhauerin diesem glazialen Schaukasten gegeben hat, lautet "the crack" - der Riss.

Die ausgebildete Holzbildhauerin, deren Bilder auch immer zugleich räumliche Objekte sind, sammelt ihre Motive meist beim Klettern in den Alpen. Astrid Busch, die andere Künstlerin dieser Ausstellung, holt sich ihre Inspirationen auf ihren Reisen rund um die Welt, aus Istanbul, Le Havre, Eriwan. Ihr Fokus liegt auf der Architektur und wie Christiane Fleissner steht am Beginn ihrer Arbeit stets eine Fotografie.

In gewisser Weise fügt sich diese Ausstellung in eine lange Tradition der Dachauer Museen. "Wir bleiben unserem Thema Landschaften treu", sagt Jutta Mannes, auch wenn es diesmal etwas andere Landschaft sind. Stadtlandschaften treffen hier auf Berglandschaften.

Jutta Mannes hat die beiden Künstlerinnen für diese gemeinsame Ausstellung erstmals zusammengeführt, "eine sehr glückliche Konstellation", wie sie sagt. Arbeitsweise und künstlerischer Ansatz der beiden seien im Grunde sehr ähnlich, beide zerlegen ihr Bildmaterial, arrangieren und akzentuieren Fragmente neu, schichten Bildebenen übereinander; bei beiden geht es um die Raumerfahrung. Die Ausstellung in Dachau ist der künstlerische Dialog zweier Künstlerinnen, die ähnlich ticken.

Sieht aus wie Wellblech, ist aber Hochhausarchitektur: Arbeit aus Astrid Buschs Reihe "Viking Venus". (Foto: Toni Heigl)
Licht, Bild und Lichtbild in der überblendeten Vliestapete "Raumzeitfalten" von Astrid Busch. (Foto: Toni Heigl)
Warum eine Landschaft falten, zum Beispiel auf Metallfolie? Objekt von Astrid Busch. (Foto: Toni Heigl)

Astrid Buschs Wandtapete "Raumzeitfalten" füllt eine ganze Ecke des Ausstellungsraums, vom Fußboden bis zur Decke. In dieser Arbeit greift die in Berlin und Düsseldorf lebende Künstlerin die Bergwelt von Fleissner auf; diese hat ihr Atelier weit im Süden, im schönen Voralpenland jenseits der Osterseen.

Aufs Buschs Wandtapete kann das Auge zunächst kaum mehr identifizieren als ein abstraktes Felsmassiv in dynamischen Farbfeldern, Schwarz, Blau, Weiß und ein Klecks klebriges Grün. Bis man am rechten Rand ein Paar entschlossener Lippen über einer markanten sozialistischen Kinnpartie entdeckt. Hier lugt KPD-Führer Ernst Thälmann als Kolossalstatue des sowjetischen Bildhauers Lew Kerbel von der Wand.

Das 1986 eingeweihte Ungetüm steht in Berlin an der Greifswalder Straße, 14 Meter hoch, 15 Meter breit, ein SED-Golem, aus dessen Korpus man wunderbares Spielmaterial schnippeln kann oder mit entsprechender Beleuchtung verfremden. Die Lichtbrechungen halluzinieren pittoreske Schneefelder in Steilwände, Kalkspuren und Vogeldreck auf dem Monument simulieren Millionen Jahre von Erdgeschichte. Woher die Spalten in diesem Massiv kommen - man weiß es nicht genau, Kunst suppt in alle Ritzen.

Es ist ein Stilmerkmal von Astrid Buschs Arbeiten, dass sie sich oft nicht in einen Rahmen zwingen lassen, sondern dass sie hineinfließen in den Raum, gerne mal auch um die Ecke. Das überrascht nicht, wenn man weiß, dass sie eine Meisterschülerin von Katharine Grosse ist, vor deren Farbspritzpistole an Ausstellungsorten weder Boden, Wände noch Möbelstücke sicher sind. Für ein Wandstück der Neuen Galerie hat Astrid Busch eine maßgeschneiderte Vliestapete mit ihren Collagen angebracht, über die wechselnde Bilder projiziert werden, verschiedene Orten, verschiedene Zeiten, Schichten, Überlagerungen.

Instabile Vierdimensionalität

Der Titel der Ausstellung "Raum-Zeit-Falten" stammt eigentlich aus der Relativitätstheorie, wie Jutta Mannes dem Dachauer Kunstpublikum schon bei der Eröffnung zur Langen Nacht der offenen Türen erläutert hat. Mit dem Begriff behelfe man sich, "um einen Zustand zu bezeichnen, in dem das einheitliche vierdimensionale Gebilde aus Raum und Zeit aus irgendwelchen Gründen instabil wird". In dem Raum und Zeit also "auseinanderfallen oder sich eben zusammenfalten". So was gibt es im Weltraum und auch in der Neuen Galerie.

"Man muss sich auf so etwas schon einlassen können als Otto Normalbürger", sagt Mannes. Und es lohnt sich ja auch. Für alle, die dazu bereit sind, gibt es in diesen "Raum-Zeit-Falten" nämlich allerhand zu entdecken, und so verrückt wie die Ebenen von Zeit und Raum einem in dieser Ausstellung auch erscheinen mögen, herrscht doch eine Harmonie, wie man sie da draußen in der linearen Geschichte gerade vergeblich sucht. Die Kunst ist hier ein vergleichsweise behagliche Falte in der Wirklichkeit.

"Raum-Zeit-Falten." Installationen und Collagen von Astrid Busch und Christiane Fleissner, Neue Galerie Dachau. Öffnungszeiten Dienstag bis Sonntag sowie an Feiertagen von 13 bis 17 Uhr. Zu sehen bis 26. November.

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