Neue Galerie Dachau:Die Verwandlung

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Axel Lieber: "Mein konstruktiver Alltag". Zusammengesetzt aus Kartons. Zu sehen in der Neuen Galerie Dachau. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Wie Axel Lieber und Tom Früchtl Alltagsgegenstände in ein komplexes Spiel über Illusionen, Vorurteile und Reminiszenzen einbinden.

Von Bärbel Schäfer, Dachau

Man kennt solche Szenen von der Straße. Eine Gruppe Jugendlicher steht im Kreis, alle sind ähnlich gekleidet in Jeans und Turnschuhen, mit tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen ihrer Jacken und lässig hängenden Schultern. Schon in der Körperhaltung lassen sich ihre Coolness und Abgrenzung zur Welt der Erwachsenen erkennen. Axel Lieber hat aus diesem urbanen Klischee eine skulpturale Installation mit dem Titel "Private Architektur" geschaffen. Sie ist Bestandteil der Ausstellung "Simple things", die Lieber zusammen mit dem ebenfalls in Berlin lebenden Tom Früchtl in der Neuen Galerie in Dachau präsentiert. Die beiden Bildhauer verwandeln alltägliche Gegenstände und Fundstücke in Skulpturen, die sich erst auf den zweiten Blick als solche zu erkennen geben.

Die Skulpturengruppe "Private Architektur" besteht nur aus drei Kapuzen, die durch überlange Schnürsenkel mit den dazugehörigen Schuhen verbunden sind. Sie scheinen im Raum zu schweben. An den Kapuzen hängen beiderseits kleine Taschen, mit Gewichten beschwert, die sich zu Säckchen formen. Sie suggerieren die hängenden Arme. Die skulpturale Installation aus nichts als Teilen uniformer Jugendkleidung erweckt trotz ihrer absoluten Reduziertheit einen verblüffend körperlichen Eindruck.

Die Schlaksigkeit der drei Jugendlichen kommt zum Ausdruck, sie stecken die Köpfe zusammen, sie hängen ab. Mit einfachen Mitteln spielt der Künstler Axel Lieber auf allseits bekannte Verhaltensmuster an und auch darauf, wie stark unser Gedächtnis trainiert ist. Wir erkennen mühelos allein schon in seinen Andeutungen das entspannte Lebensgefühl der Jugendlichen: Chillen.

Noch ein dritter, ironischer Aspekt schwingt in der Kapuzen-Skulptur mit. Axel Lieber bezieht sich auf berühmte Bildwerke des Klassizismus, die ebenfalls junge Menschen darstellen, wie beispielsweise die Prinzessinnengruppe von Johann Gottfried Schadow um 1795. Sie zeigt die preußische Kronprinzessin Luise mit ihrer Schwester Friederike in der herzlichen Umarmung junger Mädchen. Ein Standbild mit fast heiliger Aura. Etwa in derselben Zeit entstanden die "Drei Grazien" von Antonio Canova, schöne, entrückte Göttinnen von einer makellosen Ästhetik, die im Reigen auf dem Olymp tanzen. Beide Skulpturengruppen sind Hauptwerke der klassizistischen Bildhauerei, in der das Material - Marmor - und die Thematik - unerreichbare Prinzessinnen und Göttinnen - den Anspruch hoher, bildungsbeflissener und ewig gültiger Kunst repräsentieren.

Axel Liebers Skulptur transportiert das kostbare, einzigartige und dauerhafte Motiv in unsere Gegenwart und in den Alltag heutiger Jugendlicher und stellt damit die Frage nach der zeitlosen Gültigkeit der Bildhauerei. Hehre Kunst auf dem Sockel wird zur Alltagskunst. Ähnlich ist es mit der Papiertüte "Silent Movie", die wie vergessen im Raum steht. Die ausgeschnittenen rollenden Augenpaare blicken sowohl aus dem schwarzen Inneren der Tüte als auch aus ihr heraus und erinnern an lustige Comicfiguren. Dass Axel Lieber die Gegenstände von ihren Inhalten befreit, ja geradezu aushöhlt, ist in der Wandskulptur "Mein konstruktiver Alltag" zu erkennen. Sie besteht aus Verpackungskartons, deren Flächen bis auf die Kanten herausgeschnitten wurden. Die erhalten gebliebenen Kanten stapelt der Künstler zu einem fragilen farbigen Gerüst. Das Fassungsvermögen der Schachteln ist zwar noch zu erahnen, aber sie erfüllen nicht mehr ihren ursprünglichen Zweck, sie sind nur mehr eine Idee, werden zur Illusion eines Behältnisses. Im Zusammenwirken mit der Augentüte ergibt sich ein spannendes Spiel mit dem Raum und Inhalt.

Auch Tom Früchtl stellt die Frage nach dem Umgang des Künstlers mit dem Material und seiner Wirkung. Über Jahrhunderte war es ein signifikantes und wesentliches Ausdrucksmittel in der Kunst, bis Marcel Duchamp zu Beginn des 20. Jahrhunderts Alltagsgegenstände zum Kunstwerk erklärte und später Joseph Beuys noch mehr die Grenzen aufhob und den Kunstbegriff vom rein materiell geschaffenen Kunstobjekt befreite. Tom Früchtl schafft in seinen Objekten Illusionen und täuscht das Publikum über deren ursprüngliche Bedeutung hinweg. Aus der Entfernung glaubt der Betrachter in einem großen braunen Wandbild flächige Tafelmalerei, Farbfeldmalerei, zu erkennen. Das Bild besteht aus übereinandergelegten Pappen verschiedener Größe, also kunstunwürdigem Material oder Abfall, aus denen Tom Früchtl ein Kunstwerk schafft, das die Attitüde von großzügiger Malerei suggeriert. Sperrholzplatten verwandelt er dank einer illusionistischen Oberflächenbemalung in die Maserung von hochwertigem Holz und ein Hemd wird zum emotionalen Akt des Colourfield Paintings. Tom Früchtl verkleidet die Bildträger und wertet das billige Material auf. In dieser Hinsicht birgt die Ausstellung äußerst interessante Gedanken zum Spiel mit Raum, Illusion und Vorurteil.

Neue Galerie Dachau: Simple Dinge, Axel Lieber und Tom Früchtl, bis 20. November.

© SZ vom 06.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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