Klimakrise, Krieg mit Russland, Antisemitismus, Epidemien, soziale Verwerfungen mit Superreichen und Hungerflüchtlingen. Gab es alles schon mal vor rund 700 Jahren. Seinerzeit hatte die kleine Eiszeit Europa im Griff, die Rus war Vorläufer des heutigen Russlands, die Pest raste in Wellen durchs Land, Menschen starben wie Fliegen. Adlige Gierschlingel und klerikale Raffzähne lebten in Saus und Braus. Ihre Untertanen respektive Gläubigen waren leichte Beute, der man immer neue Abgaben abpressen konnte.
In diese Zeit wurde Birgitta von Schweden (1302-1373) hineingeboren. Die Theatergruppe Altomünster würdigt nun den 650. Todestag der Europaheiligen mit "Birgitta von Schweden - Prophetin am Scheideweg" in einer aufwendigen Freilichtaufführung im Pfarrgarten unter der Regie von Wolfgang Henkel. Bereits 2003 hat die Theatergruppe zum 700. Geburtstag Birgittas das Schauspiel aufgeführt. Nun hat es Autor Claudius Wiedemann gekonnt aktualisiert.
Birgitta war eine ungewöhnliche Frau
Entstanden sind 18 Bilder, die das Leben dieser ungewöhnlichen Frau nachzeichnen. Die mächtige, bedrohliche Kulisse ist zugleich Herrschaftsarchitektur des verlotterten schwedischen Hofs und der mindestens ebenso verlotterten Päpste in Avignon und Rom. Sie vergnügen sich "da oben", sind Ränkeschmiede und Kriegstreiber, während "die da unten" erbarmungslos ausgebeutet werden oder kläglich als Kanonenfutter enden.
Zwischen diesen beiden Welten bewegt sich Birgitta, aufrecht, unbeirrbar, furchtlos. Pia Obeser spielt die junge Birgitta, die von ihrem Vater (Matthias Spengler) und dem durchtriebenen Bischof Skara (Marco Mauer) in die Ehe mit dem "Pferdetölpel" Ulf Gudmarson (Stephan Reisner) gezwungen wird. Sie lebt das Leben einer hochadeligen Frau und Mutter, bis sie Hofmeisterin der oberflächlichen, vergnügungssüchtigen Königin Blanka (Susanne Jais) wird.
Birgitta (nun gespielt von Manuela Schmaus) ist die moralische Instanz am Hof des unberechenbaren, leicht irre vor sich hin brabbelnden Königs Magnus (Thomas Koppold). Dass die demoralisierte Hofgesellschaft sie gnadenlos mobbt, dass Bischof Johansson (Wolfgang Henkel) sie der Häresie bezichtigt und mit Folter und Tod bedroht, prallt an ihr ab. Sie vertraut auf Gott und ihre Offenbarungen und versucht alles, um König Magnus von Krieg und Gemetzel abzubringen. Vergebens. Sie rennt immer wieder gegen eine Mauer der Ignoranz und des Hochmuts - und bleibt unnachgiebig. Ihre Mission: eine bessere, gerechte Welt für alle.
Doch ihre Mahnungen verhallen ungehört. Der tattrige Papst Clemens VI. (Michael Heine) suhlt sich in Avignon auf seinem roten Lotterbett. Warum soll er seinen prunkvollen Palast und seine zahlreichen Mätressen verlassen und in die Dreckschleuder Rom zurückkehren? Was soll dieser Papst mit den vielen Flüchtlingen, die vor der Stadt warten? Aussperren oder in andere Städte abschieben, rät ihm der wetterwendische Annibaldo (Michael Lugmair). Und da wären ja noch die Juden. Dass sie verfolgt, vertrieben, ermordet werden: nicht sein Bier.
Zu dumm, dass ihm Birgitta weiter auf die Nerven geht, ihren Vertrauten, den Franziskaner Matthias (Marcus Gottfried), mit Aufforderungen zur Änderung seines Lebenswandels schickt, die der Papst geflissentlich ignoriert. Birgitta lässt nicht locker. Sie macht sich auf den Weg nach Rom, wo mittlerweile Papst Urban V. (Matthias Spengler) regiert. Der genehmigt der nunmehr fast 70-Jährigen endlich die Gründung ihres Ordens - und kehrt selbst Rom den Rücken, um in Avignon zu regieren. Und Birgitta? Macht sich auf ins Heilige Land, denn "Was ist das Leben mehr als Aufbruch?"
Birgitta und ihre Zeit erhalten ein Gesicht
Regisseur Henkel und sein Team auf und hinter der Bühne haben es geschafft, Birgitta und ihrer Zeit ein Gesicht zu geben. Sie zeigen einprägsame Charakteren, oft in Doppel- und Mehrfachrollen, auch in der Überzeichnung glaubhaft. Manuela Schmaus zeigt Birgitta als unermüdliche Macherin, eine, die unbeirrbar ihren Zielen folgt. Kommt einem bekannt vor. So blitzt zwischen den Bildern immer wieder der verwegene Gedanke auf, ob und wie sich Birgitta 2023 mit Umweltschützerinnen oder Flüchtlingshelfern zusammentun und Kriegstreibern oder Tech-Milliardären die Leviten lesen würde.
Dass solche Gedankenspiele möglich sind, ist dem unglaublichen Aufwand und dem intensiven Spiel der Theatergruppe geschuldet. Ihr ist es gelungen, ein überzeugendes Ambiente zu schaffen: von der grandiosen Bühne, bis zur Bewirtung, von der Maske bis zu den Kostümen, vom Bänkelsänger Wolfram Gäfgen bis zum mitreißenden Spiel aller Mitwirkenden. Durch den Pfarrgarten weht ein guter birgittinischer Geist, der sich nicht hinter Klostermauern versteckt.
Weitere Vorstellungen: Samstag/Sonntag, 7./8. Juli