Kultur in der Krise:"Die Hölle unverdünnt"

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Der stornierte Spielplan wird chronologisch abgearbeitet. Für Opernenthusiasten wird das schnell unübersichtlich. (Foto: Jutta Czeghun)

200 000 Tickets muss die Bayerische Staatsoper nach dem vorzeitigen Ende der Saison rückerstatten. Die Kunden und das Team des Kartenverkaufs stellt das vor riesige Herausforderungen

Von Jutta Czeguhn

Normalerweise freut sie sich über Post von der Staatsoper, über die Umschläge mit den heiß begehrten Tickets. In diesen Tagen leert Anni S. ihren Briefkasten eher unwillig. "Gestern waren es 18 Kuverts, das sah aus! Die Postbotin muss sie mit der Faust da rein gedroschen haben", erzählt die Münchnerin. Das Nationaltheater ist das Bewegungselement der Endsechzigerin, ihr soziales Revier. Dass die Opernsaison nun pandemiebedingt ein vorzeitiges Ende gefunden hat, dass ihre geliebten Festspiele ausfallen, ist für die Stammgeherin so, als wäre der Steckkontakt zu einem Kernbereich ihres Daseins unterbrochen. Immerhin ist man in brieflichem Kontakt, denn die Staatsoper muss circa 200 000 stornierte Tickets zurückerstatten. Eine nie dagewesene organisatorische Herausforderung für die Mitarbeiter im Kartenverkauf. Eine nervlich strapaziöse Angelegenheit auch für die Kunden.

Generell könnte der Shutdown für die Staatsoper einen Einnahmeverlust von mindestens 14 Millionen Euro bedeuten. Opern-Sprecher Christoph Koch geht vorsichtig mit diesen Zahlen um: "Derzeit wird im Ministerium eine einheitliche Kulanzlösung für Gagen zu ausgefallenen Vorstellungen entwickelt. Erst dann wird eine sinnvolle Bewertung der finanziellen Effekte möglich." Nicht zu beziffern ist der kulturelle Verlust, der Opernenthusiasten wie Anni S. schmerzhaft deutlich wird, wenn von Saison-Highlight wie der Premiere von Marina Abramovićs "7 Deaths of Maria Callas" oder dem Super-"Don Carlo" mit Elina Garanča, Anja Harteros und Ludovic Tézier nichts weiter übrig bleibt als Rückabwicklungsformulare. 62 Briefe hat Anni S. mittlerweile von der Staatsoper bekommen, der stornierte Spielplan wird chronologisch abgearbeitet. "Ich hab' hier quasi schon mein eigenes Kartenbüro", sagt sie lakonisch. Die Rentnerin lässt immer einige zusammenkommen, ehe sie die alten Bearbeitungsnummern der jeweiligen Tickets in die Formulare einträgt und sich mit Maske auf den Weg zur Post macht. Sie hofft, dass es am Ende mit dem Geld für sie aufgehen wird.

So kalkuliert auch Josefine H., die wie Anni S. ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Für die Achtzigjährige ist die Münchner Oper ebenfalls so etwas wie ein Überlebensmittel. Sie gehört gar zu jenen Extremen, die jedes Jahr im Januar die Strapazen auf sich nehmen und eine Woche lang rund um die Uhr zu sogenannten Appellen auf dem Marstallplatz erscheinen, um durch das heruntergekurbelte Fenster eines geparkten Wagen ihren Namen zu raunen. Nur so kann man sich einen aussichtsreichen Platz auf einer informellen Liste sichern, die einem am Erstverkaufstag für die Festspielkarten einen zügigen Durchmarsch zum Tageskassenschalter garantiert. Den Appell-Marathon hat Josephine H. mit zehn Bekannten geschultert. Sie hat dann für die gesamte Gruppe Tickets im Wert von 3850 Euro erworben, auf die Kundennummer einer Freundin, bezahlt hat sie aber mit ihrer eigenen Kreditkarte. Die Festspielbilletts, unter anderem für die begehrten "Meistersinger", haben die elf Opernfreunde untereinander aufgeteilt. Die Tickets gingen, wenn man das so sagen darf, viral. Und genau das ist Josephine H.s Problem. Denn sollte die Staatsoper all diese Tickets chronologisch nach Aufführungstagen rückabwickeln und die Beträge peu-á-peu auf das Kundenkonto ihrer Freundin buchen, geht ihr jeder Überblick verloren. "Das ist dann die Hölle unverdünnt", stöhnt die Seniorin. Sie bittet nun inständig, dass das Kartenbüro bei jeder Rückbuchung kenntlich macht, um welche Vorstellung es sich handelt.

Keine der beiden Stammkundinnen hat die Logik des Stornierungsverfahrens bis ins letzte Detail durchstiegen, obwohl es auf der Homepage der Oper Handreichungen gibt, und das Call-Center nach wie vor besetzt ist. Es bleiben Fragen: Warum geht das Kartenbüro chronologisch vor, wozu die vielen Briefe, die vielen Buchungen? Warum arbeitet man den riesigen Ticket-Berg nicht pauschal nach Kundennummern ab? Christoph Koch kann folgende Erklärung liefern: "Uns erschien es fair, die Bearbeitung chronologisch durchzuführen, da bei den frühen Vorstellungsterminen auch der Kaufzeitpunkt in der Regel am längsten zurücklag. Auch wurden die Vorstellungen in drei Wellen abgesagt." Erst am 17. April hatte Intendant Nikolaus Bachler die Saison für beendet erklärt. Der letzte Abend vor Publikum - das Ballett "Portrait Wayne McGregor" - war hingegen schon am 10. März über die Bühne gegangen. "Wir waren da alle etwas am Wasser gebaut, Endzeitstimmung!", erinnert sich Anni S. Sie war dabei.

In der Kostümwerkstatt der Oper wurden auch Gesichtsmasken für Mitarbeiter genäht. (Foto: Verena Kopp)

Seit März also läuft nun die Rückabwicklung. Am geschmeidigsten für jene Kunden, die per Lastschrift bezahlt haben. Sie müssen nichts tun, erhalten den Betrag pro Karte automatisch auf ihr Konto rücküberwiesen. Aus Datenschutzgründen, erklärt Koch, dürfe die Oper jedoch Details anderer Bezahlarten, also EC- oder Kreditkartennummern nicht speichern. Deshalb müsse man diese Kunden jeweils kontaktieren, per Brief, per Mail. Sie könnten entscheiden, ob sie den Ticketpreis als Gutschein oder Überweisung erhalten oder ihn spenden möchten. Laut Koch arbeitet beim Zentralen Kartendienst der Bayerischen Staatstheater ein Team von 33 Personen an der Rückerstattung der Tickets aller vier Münchner Häuser. Entweder aus dem Home-Office oder vor Ort, dann überwiegend Einzelbüros. Für den Arbeitsweg wurden sie mit Gesichtsmasken ausgestattet, die in der Kostümwerkstatt der Oper gefertigt wurden. Ende dieser Woche sollen laut Opern-Homepage alle Storni abgeschlossen sein. "Sollte jemals eine Weltmeisterschaft im Stornieren stattfinden, werden wir die Kolleginnen und Kollegen aus dem Kartenverkauf auf alle Fälle entsenden", heißt es auf der Opern-Homepage. Mitte Mai soll auch wieder die Tageskasse für Rückgaben von anonym gekauften Tickets öffnen. "Die Werkstätten der Staatsoper in Poing unterstützen uns bei der Ausstattung der Schalterplätze, etwa mit Plexiglasscheiben", berichtet er. In jedem Fall werde in den Tageskassenraum nur eine begrenzte Zahl an Besucher eingelassen und sichergestellt, dass Anstehende den Mindestabstand einhalten.

Anni S. und Josephine H. fiebern der Wiedereröffnung ihrer Staatsoper entgegen, wann und wie auch immer dies der Fall sein wird. Sie haben munkeln hören, dass Maria Callas ihre sieben Tode doch noch in München sterben darf. Koch will das zumindest nicht ausschließen: "Sobald das Projekt terminiert werden kann, werden wir auch sehr kurzfristig den Vorverkauf beginnen. Gerne denken wir über ein Vorkaufsrecht für diejenigen nach, die bereits im Besitz von Karten waren."

© SZ vom 07.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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