Irgendwann kann Gulala Amin die Tränen nicht mehr zurückhalten. Die Wehen haben eingesetzt, lange wird es nicht mehr dauern, bis sie ihr zweites Kind in den Armen halten kann. Doch die 36-Jährige fühlt in diesem Moment nur Einsamkeit. Allein sitzt sie im Bus und fährt in eine Münchner Geburtsklinik. Ihr Mann kann nicht mitkommen, er muss ja bei ihrem zwei Jahre alten Sohn bleiben, erst viel später wird er nachkommen in den Kreißsaal. Weil einfach niemand da ist, der vorübergehend auf den Jungen aufpassen kann. Keine Freunde, keine Familie. Und auch keine Nachbarn.
In ihrer Heimat, dem Nordirak, von wo Gulala Amin vor drei Jahren nach München geflohen ist, läuft die Sache anders mit der Nachbarschaft. Wie anders, das erzählt sie in dem Buch "Mein Nachbar aus. . .", das jetzt als Teil des Projektes "Die Teilgeber" erschienen ist. Dahinter stehen drei Leiterinnen von Münchner Nachbarschaftstreffs in Trägerschaft des Vereins für Sozialarbeit, Mandy Rahnfeld, Gerlinde Gottlieb und Stefanie Junggunst, sowie Alexandra Ruzicka, bei der die Bereichsleitung für die Nachbarschaftstreffs liegt. Die Initiative will die gute Nachbarschaft in den Stadtvierteln fördern, sie wird vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) unterstützt. Zum Buch gehört eine Wanderausstellung, die noch bis zum 29. September zu sehen ist, zunächst im Nachbarschaftstreff Blumenau. Anschließend tourt sie neun Monate lang durch München.
Gulala Amin aus dem Irak hat viel zu erzählen: Gleich am ersten Tag, wenn Mutter und Kind nach Hause kommen, bringen alle Nachbarinnen Süßigkeiten vorbei. Sie waschen das Baby und bereiten das Essen vor. Eine Woche läuft das so. Bis es der Frau wieder besser geht, helfen die Nachbarinnen mit. "Aber ich glaube, hier in Deutschland ist das nicht so, oder?", wird die zweifache Mutter zitiert.
Nein, hierzulande ist das in aller Regel nicht so. Das fiel eben auch den Leiterinnen der Nachbarschaftstreffs auf. Nur warum Nachbarschaft in Europa oft anders funktioniert als in Syrien, Bangladesch oder dem Kongo, das war ihnen nicht ganz klar. Und weil sie keine vernünftige Literatur gefunden haben zur gesellschaftlichen Aufgabe der Nachbarschaft in anderen Ländern, begannen die Frauen jene Menschen zu befragen, die beide Seiten kennen: die Münchner Migranten. In "Mein Nachbar aus. . ." erzählen 26 Menschen aus 15 verschiedenen Ländern ihre Geschichte, manche von ihnen leben schon seit vielen Jahren in München. Die oberfränkische Künstlerin Franziska Fröhlich hat auf Basis eines Fotos jeden mit Farbstiften illustriert, der in dem Buch zu Wort kommt. Und wenn die Erzählungen mitunter auch unerwartete Wendungen nehmen, so geht es im Kern doch immer darum, wie Nachbarschaft in den Herkunftsländern der Migranten gelebt wird. "Es gibt Ähnlichkeiten, es gibt Unterschiede, aber jede Geschichte birgt eine Weisheit für sich", sagt Mandy Rahnfeld vom Nachbarschaftstreff Hirschgarten, eine der Projektleiterinnen.
Manche Geschichten handeln von Krieg und Flucht, in anderen Texten ist Heimweh spürbar, dann wiederum wird offenbar, dass es in vielen Ländern völlig normal ist, ohne Voranmeldung beim Nachbarn hineinzuspazieren, weil die Türen immer offen sind. "Viele erleben in Deutschland dann erst mal einen Kulturschock", sagt Rahnfeld. Hierzulande bekommt man es meistens gar nicht mit, wenn nebenan jemand einzieht - das wird schnell klar bei einem Blick ins Buch. In anderen Ländern dagegen sind Freunde, Familie und Nachbarn in einem engen Beziehungsgeflecht miteinander verwoben. Das führt dann zu Verhältnissen, die weit über das Borgen von Eiern oder die Organisation des Sommerfestes hinausgehen: Wenn in Burkina Faso ein Nachbar stirbt, werden alle Feste abgesagt, die Nachbarschaft trauert kollektiv. In Äthiopien kommt das Dorf regelmäßig zum Bohnenrösten zusammen, bis heute pflegt Hindiya Moussa , die seit Mitte der Achtzigerjahre in Deutschland lebt, den Brauch des gemeinsamen Kaffeetrinkens. Diese Liste an Beispielen gelebten Miteinanders ließe sich fortsetzen, und wenn man etwas Gemeinsames herauslösen möchte aus den Erfahrungsberichten, ist das wohl ein ausgeprägtes Gefühl für Solidarität unter Nachbarn. Oft ist ein Nachbar sogar der erste Ansprechpartner bei Problemen, den großen wie den kleinen. Man springt bei der Kinderbetreuung ein, wenn jemand krank wird, hilft und unterstützt sich gegenseitig - selbstredend, ohne ein großes Bohei darum zu veranstalten.
Wer sich in Deutschland dagegen nicht beizeiten anmeldet, riskiert, vor verschlossen Türen zu stehen, weiß Fatema Ali. "Hier braucht man immer einen Termin", sagt die 39-Jährige aus Bangladesch. Einfach treffen oder sich gegenseitig besuchen, so ganz spontan, das ist hier schon deshalb schwierig, weil deutsche Frauen oft berufstätig sind. Bei ihr zu Hause sei das ganz anders gewesen, erzählt Ali, ihre Mutter war Hausfrau und praktisch ständig daheim, natürlich konnte da jeder und zu jeder Zeit vorbeikommen. Ende der Neunzigerjahre zieht Ali nach Deutschland, seit 2002 lebt sie in München. Kontakte pflegen? Das ist für sie kein Problem, wie sie sagt, und das sei es im Übrigen auch nie gewesen. Gerade wegen ihrer Kinder sei sie früher - ihre älteste Tochter ist mittlerweile 18 Jahre alt - häufig angesprochen worden. Was, so jung, und schon ein Baby? Ach ja, und verheiratet sei sie auch schon, das sei ja ein Ding.
Wie die meisten Migranten in dem Buch ist Fatema Ali längst in München angekommen, wie das so schön heißt. Alle Protagonisten haben den mühsamen Weg der Integration erfolgreich beschritten, sind quasi Vorbilder, denn durch ihr Engagement in den Münchner Nachbarschaftstreffs oder Familienzentren zeigen einige nun ihrerseits neu Zugewanderten, wie das gelingen kann mit der Integration. Allerdings: Hier der distanzierte und auf die Wahrung seiner Privatsphäre erpichte Münchner, dort der herzliche Migrant mit großem Gemeinschaftssinn - einfach nur Schubladen aufzumachen wäre doch zu einfach. Man muss zur Verteidigung von Europa im Allgemeinen und der bayerischen Landeshauptstadt im Besonderen anführen, dass hier unter anderem karitative Einrichtungen nachbarschaftliche Aufgaben erfüllen. Gerade die weiblichen Migranten profitieren womöglich von einem Umdenken im Rollenbild, zu dem sie so manche Münchnerin inspiriert. Und natürlich ist auch in anderen Ländern nicht immer alles eitel Sonnenschein unter Nachbarn: Auch in dem Buch der Nachbarschaftstreffs gibt es Geschichten, die von Misstrauen unter Nachbarn zeugen, wo man sich vor der Begegnung auf der Straße regelrecht fürchtet - wie etwa im Fall eines jungen Mannes aus Mossul im Irak, einer Stadt, die die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) lange Zeit besetzt hielt. Vielleicht ist es so, dass in Wahrheit beide Seiten für mehr Miteinander gefragt sind. "Damit ich mich zugehörig fühle, muss ich teilhaben, aber auch einen Teil geben", wie Mandy Rahnfeld das formuliert. Und zwar nicht nur unter Nachbarn.
Die Ausstellung "Mein Nachbar aus. . ." wechselt am 30. September ins Eine-Welt-Haus, Schwanthalerstraße 80; weitere Stationen finden sich im Netz unter www.die-teilgeber.de.