Klassische Musik:"Abgerutscht in eine elitäre Ecke"

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Anne-Sophie Mutter und Maximilian Hornung kämpfen dafür, dass die Gesellschaft wieder mehr musiziert. Ein Gespräch über die Bedeutung der Lust am Instrument für Kinder und deren Zukunft.

Interview von Rita Argauer und Christian Krügel

Anne-Sophie Mutter, 52, ist eine zuvorkommende Gastgeberin. Zum Interview-Termin in ihrem Büro in Bogenhausen gibt es Kaffee, Tee und Kuchen. Maximilian Hornung, 29, fühlt sich in dieser Obhut sichtlich wohl. Er kennt diese Fürsorge: Der Cellist ist Stipendiat der Stiftung von Anne-Sophie Mutter, mit der sie sich um die Förderung besonders begabter Musiker kümmert. Zusammen werden sie an diesem Freitag beim Benefizkonzert des SZ-Adventkalender das Doppelkonzert von Johannes Brahms spielen. Der Erlös kommt Projekten zur musikalischen Bildung zugute. Kinder, Nachwuchsarbeit und die Zukunft der Klassik - ein Thema, über das die beiden Künstler mit ähnlicher Verve reden können wie über Musik.

SZ: Frau Mutter, Sie haben vor zehn Jahren gesagt, der Zustand des Musikunterrichts in Deutschland sei deprimierend und geradezu peinlich. Hat sich seitdem irgendetwas zum Positiven gewendet?

Anne-Sophie Mutter: Ich kann nicht sagen, dass sich das Bild zum Positiven gewendet hat, weder wenn ich mir die Ergebnisse der Musikwettbewerbe anschaue, noch wenn ich sehe, wer sich bei mir in der Stiftung bewirbt. Musizieren und Musikunterricht haben noch immer keine Wertigkeit in unserer Gesellschaft. Wir sehen das am deutlichsten an den Musiklehrern, die ja kürzlich gestreikt haben, weil viele keine feste Anstellung haben und dadurch auch kein soziales Netz. Ihre Arbeit wird nicht geschätzt, sie sind unterbezahlt, und die vielen jungen Musiker, die eigentlich gerne ein Instrument lernen würden, sind in der Schule deshalb natürlich überhaupt nicht gefördert und gefordert. Und so geht der tägliche, natürliche Umgang mit Musik mehr und mehr verloren.

Woran liegt diese geringe Wertschätzung? Weil man musikalische Erfolge nicht wirtschaftlich messen kann?

Mutter: Vor Erfindung all dieser aufregenden elektronischen Medien, vor YouTube und Facebook, war das gemeinsame Musizieren noch ein Hobby und ein Familienzusammenhalt, der gerne gepflegt wurde. Musik war sehr viel mehr im Alltag verankert. Die Übermacht der Medien und der elektronischen Geräte macht uns bequem. Es ist mehr der Konsum als das aktive Tun, was in unseren Familien und in der Gesellschaft zählt. Es ist mehr der Event, die schnelle Befriedigung unserer Konsumgelüste. Es ist weniger das Selber-Tun, das Selber-Machen, das Kreative. Geld und Berühmtheit scheinen inzwischen das Erstrebenswerteste im Leben vieler junger Menschen zu sein - so wie es die Kinder ja von morgens bis abends auf YouTube, Facebook und in bestimmten Fernsehkanälen vorgegaukelt bekommen. Musik ist einfach abgerutscht in eine elitäre Ecke.

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Ist klassische Musik nicht elitär?

Mutter: Musik ist sicher elitär im besten Sinne des Wortes. Elitär ist etwas, was für die Entstehung eines Projektes, beispielsweise eines Violinkonzerts, eine große Kunstfertigkeit voraussetzt. Aber auch eine Hinwendung, ein bewusstes Wahrnehmen und ein Konzentrieren des Konsumenten. Und das steht diametral zu unserem heutigen Konsumverhalten. Da muss alles schnell sein, einfach zu verstehen, vereinfacht, appetitlich und möglichst klar abgegrenzt in seinen Farben. Im Vergleich dazu ist Musik und Musizieren anstrengend und fordernd.

Unterfordern wir also Kinder?

Mutter: Man sollte Kindern schon zutrauen, dass sie über genug kreatürliches Interesse und auch Energie verfügen, sehr vieles anschauen, erfassen, neugierig erforschen. Wir wissen ja, dass die Synapsen-Vernetzung nur durch ständige Reizung funktioniert. Damit meine ich nicht das Fernsehen. Mit ständigen Reizen meine ich Musik, Basteln, Sport, mit dem Kind sprechen. Augenkontakt, Körperkontakt. Das wiederum setzt natürlich aktive Eltern voraus. Und wenn die Eltern beide berufstätig sein müssen, was in unserer Gesellschaft ja fast eine zwangsläufige Notwendigkeit ist, dann muss eben auch der Staat einspringen. Dann muss es ein soziales Netzwerk geben, das berufstätige Frauen viel stärker unterstützt und die Kinder eben auch musisch schult.

Herr Hornung, Sie sind 29, also noch kurz vor dem Zeitalter von Facebook und YouTube groß geworden. Würden Sie wohl eine Musikerlaufbahn einschlagen, wenn Sie heute jung wären?

Maximilian Hornung: Ich stamme aus einer Musikerfamilie, mein Vater ist Geiger, Konzertmeister in Augsburg im Orchester und meine Mutter ist auch musikbegeistert. Es waren immer Musiker im Haus, es wurde immer geprobt, gespielt. Musik hat zum Leben gehört wie Essen, Schlafen, Lesen. Es war ein ganz normaler Teil der Gemeinbildung. Da war es später auch ganz selbstverständlich, dass ich ein Instrument lerne. Das war erst Geige, dann ein bisschen Horn, dann Klavier, und als ich acht war, kam das Cello dazu. Ich würde mich heute, wenn ich das gleiche Umfeld hätte, wieder so entscheiden.

Mutter: Das Umfeld ist natürlich ganz entscheidend. Ich bin der erste Musiker in meiner Familie, aber das Umfeld war sehr musikaffin. Meine Eltern haben immer klassische Musik gehört. Also selbst in einer Umgebung, in der Musik nicht praktiziert wird, genügt es eigentlich schon, wenn sie einfach da ist. Jazz, Klassik - wie soll ein Kind überhaupt rausfinden, dass diese Dinge existieren, wenn Eltern damit keinen Umgang pflegen?

Heißt das, dass Kinder aus bildungsferneren Schichten gar keinen Zugang zu Klassik oder Jazz gewinnen können?

Mutter: Es ist nicht eine Frage der Bildung, ob ich ein Flötenkonzert im Radio höre. Ich habe doch die Wahl, Sender auszusuchen, die etwas anderes bringen als das, was ich schon kenne. Es ist eine Frage der Neugier. Die ist aber anstrengend, gerade wenn Kinder dann vielleicht auch noch Fragen stellen. Deshalb bleiben viele lieber bei dem, was sie schon kennen - das ist meistens nicht die klassische Musik.

Hornung: Ich habe das damals, als ich klein war, eigentlich als eine Art Freizeit empfunden, wenn ich Musik hörte. Es war auch wirklich etwas Besonderes, wenn mein Vater mit seinem Streichquartett bei uns zu Hause geprobt hat. Man hat es im ganzen Haus gehört, das war so ein Hauch von Urlaub. Es hat einen vom Alltag weggetragen.

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Und Sie waren bei den Freunden nicht der Außenseiter, bei dem Zuhause immer etwas gedudelt wurde?

Hornung: In der Grundschule war es natürlich schon so, dass ich meine Klassik-CDs gehört habe und die anderen die Backstreet Boys. Die haben mich schon so angesehen: Der macht etwas ganz anderes. Aber es war überhaupt nicht so, dass ich da nicht respektiert worden wäre.

Wären Sie durch den Musikunterricht in der Schule darauf gekommen, dass Musik für Sie interessant ist?

Hornung: Nein, mit Sicherheit nicht. Der Musikunterricht war nicht besonders inspirierend. Um wirklich eine Idee zu bekommen, was klassische Musik bedeutet, muss man Konzerte besuchen. Man hätte mit der Schule mal in die Oper gehen sollen oder in ein Symphoniekonzert, um das einfach mal live zu erleben. Das ist etwas völlig anderes, als wenn man eine CD einlegt. Diese Fülle eines Orchesters zu erleben, diese klangliche Kraft, diese Vielfalt, das ist unglaublich. Ich bin davon überzeugt, dass da bei jedem etwas bleibt, wenn er aus dem Saal geht.

Frau Mutter, Sie kritisieren auch, dass frühkindliche Musikerziehung viel zu sehr auf Rhythmus ausgelegt ist. Was stört Sie am Orff-Unterricht?

Mutter: Die Einseitigkeit. Rhythmusgefühl muss man selbstverständlich entwickeln, aber auch da scheinen die Kinder unterfordert. Beim Singen ist der ganze Körper in seiner ganzen Sinnlichkeit als Instrument erfahrbar. Das ist für das ganzheitliche Erleben seiner Selbst wichtig. Wir sprechen ja nicht nur davon, dass wir eine Generation von fabelhaften Musikern in die Welt schicken wollen. Sondern wir sprechen davon, dass ein Kind in seiner Ganzheit, in seiner Seelenwelt, in der Entwicklung der Phantasie, des Träumens, des Hörens gefördert werden soll. Das genaue Hinhören halte ich für ganz wichtig für den Dialog und das Verstehen. Nicht zum Erkennen falscher Noten, sondern für den Umgang miteinander.

Sie haben beide Grenzen des Konzertbetriebs durchbrochen, als Sie in Clubs gespielt haben. Muss man das tun, um jungen Zuhörern Klassik näher zu bringen?

Mutter: Klassische Musik live gespielt berührt uns wegen der klanglichen Fülle, aber auch wegen der Verletzlichkeit der Musik, gerade bei Streichinstrumenten. Deshalb bin ich auch in einen Club gegangen, weil in dieser Intimität des Raumes die Subtilität der Geige voll zur Geltung kommen kann. Das Leise, das Flüstern, die Magie des Instruments wird in der räumlichen Nähe unglaublich spürbar. Es war tatsächlich eine atemlose Stille bei diesen Club-Konzerten. Einige sagten mir hinterher, sie hätten zum ersten Mal überhaupt eine Geige gesehen und so gehört. Das zeigt, welche Kraft diese Musik hat.

Hornung: Ich hatte ein ähnliches phantastisches Erlebnis, als ich vergangenes Jahr die Bach-Suiten in einem Club spielte. Die Zuhörer saßen unmittelbar vor mir, es war heiß, es war eine konzentrierte Stille - und für alle ein unglaublich intensives Gefühl. Man muss nicht in Clubs gehen, um Klassik zu vermitteln. Aber da erreicht man Menschen, die sonst vielleicht nicht in ein Konzert gehen würden. Es ist eine unkomplizierte, ehrliche Atmosphäre.

Mutter: Das heißt nicht, dass wir den klassischen Konzertsaal nicht mehr brauchen. Es lehrt uns aber, dass in einem Konzert dort auch die spontane Freude, das Gefühl mehr Raum haben könnte. Man kann auch als klassischer Konzertbesucher aufspringen und jubeln, vielleicht zwischen Sätzen spontan klatschen, wenn einem danach ist - auch wenn wir alle gelernt haben, dass man das nicht macht. Ich wünsche mir mehr Mut zur Teilnahme am Konzert.

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Was muss jemand mitbringen, damit er Stipendiat in Ihrer Stiftung werden kann?

Mutter: Das, was jeder gute Musiker haben sollte: eine starke eigene Persönlichkeit, Integrität und Unkorrumpierbarkeit. Den bloßen Wunsch nach Geld und Ruhm muss man sofort aufgeben. Man muss das tun, was man für künstlerisch richtig hält, womit man Spuren für die nächste Generation hinterlassen kann. Klar ist bei jungen Künstlern die Verlockung groß, schnell einen Plattenvertrag zu machen. Dazu wird niemand gezwungen, deshalb sollten junge Künstler aufrichtig zu sich selbst sein und nur das tun, wovon sie überzeugt sind.

Hornung: Jeder sollte versuchen, eine eigenständige musikalische Persönlichkeit zu entwickeln. Der Wiedererkennungswert eines Künstlers ist entscheidend.

Heißt im Umkehrschluss: Wenn wir nicht genügend in die musikalische Ausbildung von Kindern investieren, können diese auch nicht die Persönlichkeit entwickeln.

Mutter: Ja. Das hängt entscheidend von den Lehrerpersönlichkeiten ab, von den musikalischen Wurzeln, die gelegt werden. Es geht nicht darum, neue Stars und einen Personenkult zu schaffen. Es geht darum, Künstler auszubilden, die unvergessliche neue und spannende Interpretationen von Musik schaffen, die man eigentlich schon seit langem zu kennen glaubte.

Wenn Sie Wünsche an die Politik frei hätten, die musikalische Ausbildung von Kindern zu verbessern - welche wären das?

Mutter: Der Mensch ist nur im Gesamten erfassbar, wenn er im kulturellen Reichtum seiner Wurzeln ruht. Deshalb würde ich das ungern auf Musik alleine fokussieren. Literatur, Kunst, Musik - alle drei brauchen einen höheren Stellenwert in der Ausbildung unserer Kinder, darauf müssen wir einen viel größeren Fokus legen. Und wir müssen natürlich die Bedeutung und die Stellung der Lehrer dieser Fächer stärken. Wenn uns das gelänge, bräuchten wir gar nicht mehr wünschen: Die Saat würde rasch aufgehen.

Benefizkonzert mit dem BR-Symphonieorchester. Leitung: Mariss Jansons, Solisten: Anne-Sophie Mutter (Violine), Maximilian Hornung (Cello). Werke: Doppelkonzert von Brahms, 2. Sinfonie von Sibelius; Herkulessaal, Freitag, 13. November, 20 Uhr. Das Konzert ist ausverkauft, wird aber im Radio auf BR-Klassik und per Live-Stream unter www.br-klassik.de übertragen.

© SZ vom 10.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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