Altstadt:Die Pünktchenfrau vom Jakobsplatz

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Eine Umarmung zum Abschied: Hannelore Scherers Fachgeschäft am St.-Jakobs-Platz verlässt niemand ohne herzliche Zuwendung. (Foto: Stephan Rumpf)

Hannelore Scherer verkauft seit 39 Jahren Maßhemden. Ans Aufhören denkt sie noch lange nicht

Von Pauline Stahl, Altstadt

Bis zur Decke stapeln sich Kleidungsstücke. Unzählige Knöpfe, Kragen, Nadeln und Scheren liegen herum. Durch einen schmalen Gang zwischen Hemden, Dirndl und Regenjacken kommt eine Frau langsam zur Eingangstür gelaufen. Die roten Locken trägt sie hochgesteckt, befestigt mit einer gepunkteten Schleife. Hannelore Scherer betreibt seit 39 Jahren eine Schneiderei für Maßhemden, mittlerweile am St.-Jakobs-Platz in der Altstadt. Mehr als die Hälfte ihres Lebens arbeitet sie schon in diesem Beruf, am Montag hat Scherer ihren 70. Geburtstag gefeiert.

Das Alter sehe man ihr nicht an, findet auch sie selbst. Ihre tolle Haut verdanke sie dem Konjac-Schwamm, mit dem sie ihr Gesicht abreibe. Das war in ihrem früheren Job als Mannequin und Fotomodell auch nötig. "Ich wurde viel geschminkt und bekam unreine Haut." Davon ist heute nichts mehr zu sehen. Scherer legt Wert auf gepflegtes Aussehen. An den Händen trägt sie erstaunlich viele Ringe, die Lippen sind in einem munteren Orange geschminkt. Auch ihr Kleidungsstil fällt auf, denn ob Rock, Oberteil oder Socken - alles ist schwarz mit weißen Punkten. Sogar die Kugelschreiber in ihrer Innentasche haben dieses Muster. "Ich bin die Pünktchenfrau vom Jakobsplatz", sagt Scherer. Täglich wollen Touristen ein Foto mit ihr machen.

Doch nicht nur ihr Aussehen, vor allem ihre Großzügigkeit und Warmherzigkeit haben "die Schererin", wie ihre Kunden sie auch nennen, im ganzen Viertel bekannt gemacht. Die 70-Jährige hat keine Scheu, auf fremde Menschen zuzugehen. Egal wer ihren Laden betritt oder verlässt, eine Umarmung ist Pflicht. Als Scherer eine Schwester des Angerklosters vorbeigehen sieht, läuft sie zu ihr, drückt ihr ein Bonbon in die Hand. Die hat sie immer griffbereit in ihrer Jackentasche.

Offenheit und Geduld machen Hannelore Scherer und ihre Arbeit aus. Die gelernte Designerin nimmt sich Zeit für ihre Kunden, gerade die schwierigsten Aufträge machen ihr Spaß. "Geht nicht gibt's nicht" ist ihr Motto. Dabei reicht ihre Kundschaft von Obdachlosen, denen sie Kleidung schenkt, bis zum Adel. Weil sie eine Zeit lang als Vertreterin für große Modegeschäfte arbeitete, hat sie auch dorthin Kontakte und bekommt noch heute regelmäßig Aufträge von dort. Ob besonders lange Arme oder ein kurzer Hals - aus 500 verschiedenen Knöpfen und 1800 Stoffen schneidert sie genau das, was ihre Kunden brauchen. So bindet sie manchen Käufer seit 30 Jahren an sich. Konkurrenz von Billigläden oder Onlineshops fürchtet die Schneiderin nicht. "Internet brauche ich nicht", sagt Scherer. "Meine Kunden kommen sowieso zu mir, weil sie von mir bedient werden wollen."

Ans Aufhören denkt Hannelore Scherer überhaupt nicht. "Im Moment fühle ich mich nicht wie 70", sagt sie. "Ich bin immer noch ganz frech und forsch." Ihr Nachfolger müsste jemand sein, der mit besonderer Liebe an die Arbeit geht. Bis dahin bleibt sie es, die komplizierteste Schnitte anfertigt und ihre Kunden mit einer Umarmung und einem kleinen Geschenk verabschiedet.

© SZ vom 18.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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