Allach/Schwabing:Hardrock unterm Hirschgeweih

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Auch wenn mancher noch etwas fremdelt: Im Saal des Gasthauses "Schießstätte" in Allach lebt der Geist des "Schwabinger Podiums" weiter

Von Stefan Mühleisen, Allach/Schwabing

Das Tageslicht ist ungewohnt. Die Hirschgeweihe sind es auch. Vor allem die Hirschgeweihe. "Ich meine, sogar über der Bühne hängt eines", sagt Thomas Riedl. Er blinzelt in die Sonne, und die vier Band-Kollegen des Gitarristen blinzeln mit. Sie schauen zu den Kastanien, in deren Schatten es sich die Biergartengäste gemütlich gemacht haben. Allesamt machen sie ein Gesicht wie jemand, dem eine Situation etwas merkwürdig vorkommt.

Vor wenigen Minuten haben die Mitglieder der Rockcover-Combo The Unknown Stuntmen den Sound-Check absolviert, oben im großen Saal des Gasthauses "Schießstätte" in Allach - bei Tageslicht, im Angesicht der Hirschgeweihe. Noch 20 Minuten bis zum Auftritt, Weißbier hilft beim Akklimatisieren. "Schon sehr anders", beschreibt Thomas Riedl seine Eindrücke. Es muss den Musikern sonderbar vorkommen, dass all die alten Bekannten da drüben an den Biertischen sich nicht im Halbdunkel zusammenquetschen wie all die Jahre zuvor. Die Atmosphäre, so sagt Riedel lakonisch, die hängt doch an den Stammgästen: "Und die sind alle da, wir lassen uns den Spaß nicht verderben."

Anders, aber irgendwie wie immer: Im Saal der "Schießstätte" lassen es "The Unknown Stuntmen" krachen, und alle gehen begeistert mit. (Foto: Stephan Rumpf)

Ein kurioser Spaß ist das, der hier abläuft in der neuen Heimstätte des "Schwabinger Podiums". Die Livemusik-Adresse an der Wagnerstraße ist seit Ende Februar Geschichte, doch die Wirtsfamilie Vogel wollte ihre Kult-Kneipe nicht sterben lassen - schon der Stammgäste wegen, denen das Lokal ein zweites Wohnzimmer war. Das Podium-Gefühl soll weiterleben im neuen Domizil am Stadtrand. Die Fangemeinde sieht das auch so. Gut 100 Gäste sind gekommen. Sie finden jedoch ein neues Wohnzimmer vor, das die schiere Antithese zum alten ist.

Es handelt sich um die Vereinsgaststätte der traditionsreichen königlich privilegierten Feuerschützengesellschaft "Der Bund", einem geradezu prototypischen bayerischen Gasthaus samt idyllischen Biergarten mit 550 Plätzen und typischer Ausstattung: Holzvertäfelung und akkurat gefaltete Vorhänge in der Gasstube; im Treppenaufgang hängt die Galerie der Schützenmeister hinter Glas. Über die Stufen gelangt man zur neuen Behausung für die Podium-Gemeinde: ein heller Festsaal, Säulen an den Seiten, Stuck an der Decke, Schützenscheiben und Geweih-Trophäen. Zum Rauchen geht's raus auf den bäuerlichen Balkon. Mehr Gegensatz geht nicht.

Mehr Platz, frische Luft: Wirtin Renate Vogel und Sohn Michael freuen sich über die Treue der Gäste der alten Schwabinger Kneipe und über den Biergarten unter den alten Bäumen. (Foto: Stephan Rumpf)

Zur Erinnerung: Das Lokal an der Ecke Sieges- und Wagnerstraße galt als Institution und Refugium eines speziellen Schwabinger Nachtlebensgefühls. Zugeklebte Fenster hielten das Licht draußen, damit drinnen schummriges - früher sagte man: verruchtes - Ambiente herrschen konnte. Jahrzehnte lang spielten die immer gleichen Cover-Rockbands wie die The Unknown Stuntmen vor einem sehr treuen Publikum. Vergnügtes Versumpfen in verschwitzter Enge, das Interieur von durchgefeierten Nächten abgeschliffen.

Bei den letzten Konzerten vor dem Ende an der Wagnerstraße herrschte Endzeitstimmung. Alle wussten, dass das Haus abrissen werden soll, Hunderte kamen zu den Abschiedsauftritten. Musiker, Gäste, die Wirtsleute - alle vergossen Tränen, lagen sich in den Armen. "Das war sehr berührend", erzählt Peter Feichtmeier. Totenstill sei es gewesen. "Schockstarre. Alle wussten: Jetzt ist es vorbei."

Ist es aber nicht. Der 53-Jährige sitzt im Biergarten, letzter Schluck Weißbier vor dem Konzert. Er ist Gitarrist bei der Hardrock-Cover-Combo Reload, ebenfalls Stamm-Einheizer im alten Podium. Vier Mal war er jetzt schon im neuen Allacher Domizil, hat Thunderbirds, Overdose, United Crash gesehen - allesamt gehörten sie zum Inventar des "Schwabinger Podiums". Seine Miene verrät, dass er noch nicht weiß, wie er das finden soll. "Die Stammgäste kommen, der Saal ist voll, und die Leute bringen ihren Spirit mit." Kurze Pause, Seufzen. "Aber es ist schon anders."

Gemütlichkeit im Biergarten. (Foto: Stephan Rumpf)

Und wie. Als würde ein Altrocker, der immer auf seiner alten, lieb gewonnenen Harley Davidson durchs Leben fuhr, plötzlich in eine mit Geranien geschmückte Limousine wechseln müssen. Allein, der gewohnte Sound dröhnt noch immer aus den Boxen. Und wie. The Unknown Stuntmen lassen den Glamrock-Klassiker "Hellraiser" von The Sweet durch den Saal donnern. Noch zögert die Menge an den Tischen; manche wippen mit dem Fuß und begutachten den Kronleuchter über ihren Köpfen, eine Art riesige Geweih-Krone. Erst als Riedl mit astreiner Little-Richard-Stimme "Lucille" ins Mikro kreischt, bricht das Eis. Immer voller wird die Tanzfläche, immer ausgelassener ist die Stimmung.

"Eigentlich ist es wie früher - hin mit der S-Bahn und heim mit dem Taxi", schreit Christian Dischner, 53, gegen die lauten Gitarrenriffs an. Sein fideles Lachen ist ansteckend. Seine Frau Doris, die Umstehenden, sie prusten los. Es mag anders sein. Doch den Spaß lässt sich die Podiums-Familie sichtlich nicht verderben. Zumal die Podiums-Wirte an die Details gedacht haben. Christian Dischner klopft auf die Platte des Tisches, sie ist ziemlich abgeschliffen. Es ist jener Tisch, an dem er 35 Jahre lang mit seiner Frau wohl Tausende unvergessliche Abende im alten Podium erlebte. "Er steht halt jetzt nicht mehr links, sondern rechts von der Bühne", sagt Dischner. Brüllendes Lachen. Dann stellt er klar: Mit dem alten Podium habe das freilich nichts zu tun - Stichwort: Hirschgeweih. "Doch das hier ist auf seine Art super." Der Biergarten, der Saal. "Wohlfühlfaktor", sagt er grinsend. Und raus geht's zum Rauchen auf den Balkon.

Den Stammgästen war die Kneipe ein zweites Wohnzimmer. (Foto: Florian Peljak)

Dort steht Wirtin Renate Vogel im trauten Kreis der Gäste. "Die Zeiten haben sich geändert", sagt die 64-Jährige. Das heißt zunächst: Die Schwabinger Kneipenwirte sind jetzt Gastronomen mit Küchen- und Biergartenbetrieb; zwei Köche und drei Küchenhilfen wurden eingestellt. "Es läuft super", sagt Vogel und meint damit auch die Zeitenwende fürs Podium. Die Hölle sei los gewesen bei den bisherigen Konzerten. Selig schaut sie in den Saal auf all die bekannten Gesichter. "Hauptsache, die Menschen sind da", sagt sie. Das neue Podium, es müsse nun wachsen, der Charme des alten sei schließlich auch nicht über Nacht entstanden. Und so geht die Podium-Story weiter, Hirschgeweihe hin oder her. Wirtsleute, Gäste und Musikgruppen halten unverdrossen zusammen, ein Spaßpakt fürs Leben. Am Freitag, 16. Juni, dürfte wieder die Hölle los sein, wenn die Classic-Rock-Veteranen Midlife Crisis aufspielen, Stamm-Band im alten Podium seit 1981.

© SZ vom 14.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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