"Für Euch":Der Blick in die Augen

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Elke Härtel mit dem Modell ihres Kunstwerks "Für Euch". (Foto: Florian Peljak)

Die Künstlerin Elke Härtel hat den Erinnerungsort geschaffen - mit den Bildern der Opfer. Er soll den Angehörigen helfen.

Von Sabine Reithmaier

Elke Härtel ist nervös. Sie fürchtet den Moment, in dem sie zum ersten Mal mit den Familien der Opfer im Denkmal "Für Euch" stehen wird. "Ich habe wochenlang ihren toten Kindern in die Augen gesehen, jetzt blicke ich ihnen in die Augen." Die Bildhauerin hat Angst vor dem Schmerz, den sie sehen wird, fühlt sich schon jetzt ziemlich hilflos. Aber sie ist sich sicher: "Ich habe einen würdigen Erinnerungsort geschaffen." Einen Ort der Erinnerung an die neun Opfer des Amoklaufs. An diesem Samstag, dem ersten Jahrestag, wird er der Öffentlichkeit übergeben.

Härtel, 1978 in Altenerding geboren, war überrascht, als das Kulturreferat sie im vergangenen Jahr einlud, sich am Wettbewerb zu beteiligen. "Ich bin ja eher klassisch orientiert und arbeite figurativ." Und eine Figur - das war der Künstlerin sofort klar - kam angesichts der Vorgaben nicht infrage. Neun Porträts der Opfer waren zu integrieren, ein Gedenkspruch und möglichst auch noch der Ginkgobaum. "Was hätte das also für eine Figur sein sollen?"

Anfangs war sie ratlos, plante, einen Raum zu schaffen, in dem Besucher zur Ruhe kommen. Aber dafür war das fünf Meter mal 2,50 Meter große Rechteck zu klein. Sie liebäugelte mit einem Kreis, bis sie entdeckte, dass nur ein Ring all ihre Ansprüche an das Kunstwerk in sich vereinte. Ein Ring als Symbol der Treue und Verbundenheit, ein Schmuckstück, in das zudem häufig Ziffern und Buchstaben graviert werden. Oft schmücken ihn auch Steine. Härtels Ring zieren neun aus Edelstahlblech gebogene Platten, die die Form eines geschliffenen Diamanten haben. Außen glitzern sie silbrig. Doch innen sind sie hohl, jede birgt ein Foto.

Der Ring selbst schlingt sich um den Baum, sinkt dort, wo er zu begehen ist, in den Boden. Weil das Baureferat Härtel erlaubte, das Fundament zu vergrößern und den Ring in den Bürgersteig hineinragen zu lassen, wirkt das Kunstwerk ganz leicht, gerade so, als wäre es von oben, vom Himmel heruntergefallen.

Die Idee war das eine, die Realisierung aber eine ganz andere Geschichte. Vieles, was Elke Härtel sich vorstellte, war nicht realisierbar, andere Lösungen komplettes Neuland für sie. Als Erstes verwarf sie die Idee, ein verbeultes, verletztes Schmuckstück zu schaffen. "Sonst hätte das Konzept nicht funktioniert, der Ring muss heil sein." Die nächste Überlegung galt dem Material. Bronze - ein Werkstoff, der ihr vertraut ist - oder unbekannter Edelstahl. Der Bronzegießer hatte keine Zeit, so kam sie zur Maschinenbaufirma Feckl in Forstern. Erstmals gestaltete Härtel dort ein Kunstwerk dreidimensional am Computer. "So was hatte ich bis dahin abgelehnt." Am meisten Aufwand erforderten die Fotos, die die Angehörigen ausgesucht hatten: Selfies aus den unterschiedlichsten Perspektiven, aber auch Ganzkörperfotos. Doch jetzt, gelasert und gerastert, sind alle Gesichter gleichberechtigt angeordnet, blicken den Besucher sehr direkt an.

Seit Februar hat Härtel unentwegt an dem Mahnmal gearbeitet. Nun wirkt sie ein bisschen erschöpft, aber auch froh, weil alles geklappt hat einschließlich der Aufstellung. Von ihrem Atelier im Werksviertel aus hat sie einen guten Blick auf die künftige Konzertsaal-Baustelle. In den Ecken des hohen Raums stehen Modelle ihrer Figuren. "Eloise", das kleine Mädchen, das einen zottigen Wolf erdrosselt. Der arme Kerl hängt schlaff zwischen ihren Händen, die Augen gerade noch geöffnet. Die weiße Skulptur aus Polymergips schuf sie 2013 für die 12. Rischart-Kunstprojekte, die unter dem Motto "Es war einmal" standen. Oder ihre "Rapunzel", eine Figur, mit der sie ein Sammler beauftragte. Anders als im Märchen sitzt diese nicht im Turm, sie hat weder Hände noch Arme und wirkt doch sehr stark und sehr schön.

"Ich erfinde gern Bilder und Symbole, das ist so meine Welt, die ich mir aufgebaut habe", sagt Härtel. Direkt am Fenster thront ihre "Madonna Immaculata", eine Neuinterpretation einer gestohlenen Marienfigur Ignaz Günthers, die jetzt in einem Barockschrein der Kirche St. Michael in Attel (Wasserburg am Inn) steht. Nicht weit von ihr sticht Augustinus mit einer überdimensionalen Schreibfeder einen Affen in den Hintern, eine Anspielung darauf, dass der Kirchenvater erst spät den Weg zum Glauben fand, zuvor sein Leben sehr genoss. Den Heiligen hat sie über dem Mahnmal-Auftrag vernachlässigt. Wenn die Plastik fertig ist, zieht sie ins Westportal von St. Martin in Landshut. Keine Bronze, sondern eine Keramik, und damit wieder Neuland für Elke Härtel: "Ich habe noch nie Ton gebrannt und glasiert."

Das Mahnmal, das an diesem Samstag eingeweiht wird, trägt die Namen der neun Todesopfer - und jeweils ein Bild. (Foto: Kulturreferat)

Jetzt aber erst die Einweihung des Denkmals, am Jahrestag des Amoklaufs. Härtel war an jenem Abend in der Nähe des Sendlinger Tors unterwegs, hatte jemanden im Krankenhaus besucht. "Als ich rausgehen wollte, schrie jemand, ich solle dableiben, am Karlsplatz sei eine Schießerei." Härtel nahm es nicht ernst, aber dann schrie ein Zweiter. So blieb sie, hörte die Gerüchte von mehreren Schießereien. Schließlich wurde eine ohnmächtige, blutende Frau hereingetragen. "Das war der Beweis, dass alles real war." Als gegen 21.30 Uhr durchsickerte, dass es kein Anschlag, sondern ein Amoklauf gewesen war, machte sie sich auf den Heimweg, Richtung Hauptbahnhof, und geriet in eine Massenpanik. "Eine fing an zu schreien und zu rennen, alle anderen stürzten hinterher."

Nun hofft Härtel, dass die Angehörigen etwas mit dem Kunstwerk anfangen können. Schön wäre es, wenn sie den Ort nutzen würden, "aber ich habe auch größtes Verständnis, wenn sie einen großen Bogen darum machen". Eine paradoxe Situation, findet sie. Denn dass die Opfer im Ring auf Ewigkeit präsent sind, sei wirklich gut. Auch wenn das für ihre Familien kein wirklicher Trost ist.

© SZ vom 22.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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