Altstadt:Letzte Lieder

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Der Projektkünstler Stefan Weiller hat mehr als 140 Menschen am Ende ihres Lebens besucht, um mit ihnen über ihre Musik zu sprechen. Der Christophorus Hospiz Verein führte sie mit Musikern und Schauspielern auf

Von Elisa Holz, Altstadt

Jedes Leben hat seinen eigenen Soundtrack. Die Lieder der Kindheit, die musikalischen Verirrungen als Teenager, für die man sich bald schämt. Die prägenden musikalischen Entdeckungen zwischen dem zwanzigsten und dreißigsten Lebensjahr und die häufig späte Liebe zur Oper. Aber welche Platte läuft kurz bevor das Leben zu seinem Ende kommt?

Der Frankfurter Projektkünstler und Autor Stefan Weiller hat sich auf die Suche nach den letzten Liedern von Menschen gemacht, die am Ende ihres Lebens angekommen sind. Er hat mehr als 140 Menschen in Hospizen und zu Hause besucht, um mit ihnen über ihre Musik zu sprechen. Begegnet ist er Frauen und Männern an der Schwelle, die trotzdem - oder vielleicht gerade deshalb - mit viel Humor, großer Aufrichtigkeit und Weltweisheit auf das eigene Leben und Sterben blickten. Ihre Lieder, die Geschichten und Erinnerungen dazu hat er zusammen mit dem sehr rührigen Münchner Christophorus Hospiz Verein, vielen hochkarätigen Musikern und den Schauspielern Marianne Sägebrecht und Christoph Maria Herbst als Rezitatoren am Samstag in der evangelischen Kirche Sankt Lukas im Lehel auf die Bühne gebracht.

Mehr als 1800 Menschen waren gekommen, um das außergewöhnlich Kunstprojekt zu sehen und vor allem zu hören. Der Tod gilt ja als eines der großen Tabuthemen unserer Gesellschaft. Offenbar aber haben viele Menschen tief im Inneren doch das Bedürfnis, sich mit existenziellen Themen auseinanderzusetzen. Musik ist dafür ein dankbarer Weg. Sie kommt direkt über den Bauch ins Hirn und sagt manchmal mehr als Worte, die in schwierigen Zeiten ohnehin nicht leicht zu finden sind.

Imposante Kulisse: Die St.-Lukaskirche diente als Bühne für ein Kunstprojekt des Christophorus Hospiz Vereins über das Thema Leben und Sterben. (Foto: Robert Haas)

Musik ist eine Botschaft - und kann wie im Fall der Menschen, deren Lieder an diesem Abend erklangen, auch ein Vermächtnis sein. Tatsächlich erschienen die mittlerweile Verstorbenen durch ihre Lieder und die dazugehörigen Geschichten und Erinnerungen für den Moment wieder sehr lebendig. Auch dank der pointierten Texte von Stefan Weiller bekam der Besucher einen erstaunlich klaren Eindruck von deren Persönlichkeit, ihren Wünschen und Gedanken.

Musik macht das Leben der anderen besser begreiflich. Man kann verstehen, was einem der Italo-Schlager "Marina" bedeutet, wenn man die einzige freie Zeit seines Lebens im Sommerurlaub in Italien erlebt hat. Man kann nachvollziehen, warum jemand sehr gerne die Operetten-Arie der "Christl von der Post" hört, die die Mutter im Kreise der Familie immer gut gelaunt, aber ohrenbetäubend falsch zum Besten gab. Für ihre Tochter trotzdem eine der schönsten Zeiten ihres Lebens. Und man ist nicht erstaunt, dass der Mann, der so komisch und selbstironisch von seiner missglückten Beziehung zu einer "rattenscharfen" Frau mit einem Faible für Oper berichtet, "Always look on the bright side of life" zu seinem Lebenslied erkoren hat.

Sänger Claus-Peter Eberwein. (Foto: Robert Haas)

Besonders berührend war die Geschichte einer alten Dame, die als Kind im Konzentrationslager interniert war und auf wundersame Weise überlebte. In den späten Fünfzigerjahren hörte sie dann irgendwo "Meine yiddische Mame", ein hymnischer Chanson auf die jüdische Mutter. Für die Frau war das ein einschneidendes Erlebnis: Sie begriff, dass sie frei war, aber eben auch allein. Die Mutter blieb nach der Befreiung verschollen. Doch als 1989 die Berliner Mauer fiel, fanden sie sich völlig unverhofft wieder. Die Tochter konnte ihre Mutter, die ihr fremd geworden war, noch in den letzten Wochen ihres Lebens begleiten.

Die Lieder des Abends sind erwartungsgemäß so vielfältig wie das Leben selbst: "The streets of Philadelphia" von Bruce Springsteen, das Weihnachtslied "Es wird scho glei dumpa", "Schickeria" von der Spider Murphy Gang, "Komm, großer schwarzer Vogel" des tieftraurigen Wiener Liedermachers Ludwig Hirsch oder "Let it be" von den Beatles. Ein Lied zum Sterben schön, wie der Mann fand, der sich für den Klassiker der britischen Popband entschieden hatte - auch deshalb, weil er viel länger als gedacht auf den Tod hatte warten müssen.

Mareike Bender (Mezzosopran). (Foto: Robert Haas)

Nur eine Dame, die mit dem Projektkünstler und Autor Weiller gesprochen hatte, konnte die Veranstaltung noch miterleben. Für sie stieg an dem Abend, anders als für die bereits verstorbenen Teilnehmer, kein schwarzer Luftballon zum Kirchengewölbe auf , es flackerte für sie auch keine gelbe Kerzenflamme zum Gedenken auf dem silbrig schimmernden Rund des Bühnenbilds.

Ihr letztes Lied war "Flieg Gedanke" des Gefangenen-Chors in der Verdi-Oper "Nabucco". Der beste Beweis, dass das letzte Stück des Lebens-Soundtracks kein kläglicher Abgesang sein muss.

© SZ vom 09.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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