Die Faszination, die von Nathan Evans ausgeht, hat auch damit zu tun, was er alles nicht ist: beispielsweise kein Seefahrer, kein Wirtshaus-Schunkler und auch kein abgebrühter Pop-Profi. Er ist, wie er in einem SZ-Interview sagte, "ein bescheidener, unkomplizierter Bursche". Ein 26-jährige Schotte aus Airdrie in der Nähe von Glasgow, der bis vor Kurzem Post austrug, weil er in seinem Beruf als Webdesigner keine Arbeit fand und Gelegenheitsjobs auf Baustellen mit Stahlgerüsten sich als unbefriedigend erwiesen. Einer, der in seiner Freizeit Musik aufnimmt und sie postet. Ohne große Strategie - aber mit einem unschlagbaren Gespür für das, wonach die Leute sich gerade sehnen: Zusammenhalt. Austausch. Er verkörpert echtes Leben und einen Spaß, der ohne von der Plattenindustrie hochgezüchtete Kunstwesen auskommt.
Im sozialen Netzwerk Tiktok, das Chorgesänge zwischen Fremden ermöglicht, fragte jemand im vergangenen Sommer Evans, ob er, der Schotte, nicht auch Sea Shantys kenne. Kannte er nicht, Seemannslieder aus dem 19. Jahrhundert sind auch in Schottland nicht gerade Sache von musikbegeisterten Mittzwanzigern; außerdem bewegt sich Evans nicht gerne auf dem Wasser, da wird er seekrank. Er begann zu recherchieren, eignete sich den einen und anderen Song an, richtete die Laptopkamera her, sang drauflos. Bis ein Song weltweit zum Ohrwurm wurde, erst von Tiktok-, dann von Twitter- und Youtube-Nutzern in aller Welt angehört, mitgeträllert, von Geigen und Keyboards begleitet: Evans' "Wellerman", das alte Lied neuseeländischer Walfänger, die von ihrer Auftraggeberfirma , den Weller-Brüdern, erst bezahlt werden, wenn der Wal sich endlich fangen lässt, was dieser aber zu verhindern versteht. Die Sache zieht sich, man lebt von der Hoffnung, für die viele Disziplin irgendwann doch noch mit Zucker, Tee und Rum und vor allem der wiedererlangten Freiheit zu Lande belohnt zu werden.
Evans hat seine Stelle bei der britischen Post gekündigt, um seinem neuen Plattenvertrag nachzukommen
Was Evans singt, ist die perfekte Parabel auf die nicht enden wollende Pandemie. Erfolg aber brachte ihm erst die Art, wie er singt: in weichem schottischen Singsang und mit ernster Miene; die Coolness des Hoodieträgers durchbricht dabei immer wieder ein Anflug von Schmerz. Dazu schlägt er mit der Faust den Rhythmus, mutmaßlich auf einem Gitarrenkörper. Der Raum ist kahl, das Video in nüchternem Schwarz-Weiß gehalten. Niemand der zahllosen Männer, Frauen, Kinder, Katzen, die auf Tiktok in den Refrain einstimmten, erreicht die karge Intensität des Originals. Und doch funktioniert das Lied erst als Gemeinschaftsleistung: Keiner, auch nicht der freundliche, leicht melancholisch wirkende Schotte, ist mehr allein. Nicht zu verzweifeln, das geht nur im Zusammenspiel.
Der Sogkraft des Wellerman-Lieds erliegen Prominente wie Andrew Lloyd Webber und Elon Musk. Schon ist das Stück im Mainstream angekommen. In den deutschen Charts ist das Lied jetzt die Nummer eins. Evans hat seine Stelle bei der britischen Post gekündigt, um seinem neuen Plattenvertrag nachzukommen, es sind Singles geplant und vielleicht auch eine LP. Zudem muss er ständig Interviews geben. Er sitzt nun mehr drinnen als früher, sagt er, und er hofft, langfristig als Musiker Fuß zu fassen. Ob und wie das gelingen mag, wird sich zeigen.
In jedem Fall hat der frühere Briefträger das bislang von vielen Teenager-Eltern misstrauisch beäugte Tiktok salonfähig gemacht. Zu den amüsantesten Adaptionen gehören einige Abweichungen von Evans' Grundidee: etwa eine Animation mit Walen, die, inzwischen vom Aussterben bedroht, ein Gegenlied anstimmen. Oder das "She Shanty" der australischen Bloggerin Sarah Taviani. Sie singt aus der Perspektive einer gelangweilten Home-Office-Arbeiterin, die unter der nicht enden wollenden Schwafelei in Zoom-Calls leidet. Evans hat ein neues, bleibendes Genre erfunden: den Pandemie-Chor.